Am Wochenende haben Randalierer bei einer Pro-Palästina-Demonstration in Bern Polizisten verletzt, Feuer gelegt und Mobiliar zerstört. Was sagen Sie dazu?
Ich bin empört über diese Ausschreitungen und ihre Schwere. Sinnlose Gewalt im Namen des Friedens auszuüben, ist weder akzeptabel noch glaubwürdig.
Sollten antifaschistische Bewegungen verboten werden?
Jeder Extremismus ist gefährlich – sei er religiös, politisch oder anderweitig. Er gefährdet unsere Werte, unsere Demokratien und unsere Freiheit.
Wie können solche Eskalationen verhindert werden?
Gewalttätige Personen müssen bestraft werden. Die Schweiz hat funktionierende Institutionen: Man muss nicht auf den Strassen Chaos veranstalten, um Gehör zu finden.
Ist die Schweiz noch ein sicheres Land?
Immer weniger. Wir haben uns lange in Sicherheit gewiegt – als kleines Land mit einer friedlichen Bevölkerung. Doch diese Zeiten sind vorbei. Zwei Faktoren haben uns destabilisiert: die geopolitische Lage – wir liegen mitten in Europa und sind von den sich nähernden Krisen direkt betroffen – und eine spürbare Zunahme der Kriminalität im eigenen Land.
Welche Bedrohungen bereiten Ihnen am meisten Sorgen?
Wir sehen eine deutliche Zunahme der organisierten Kriminalität, ein wachsendes Terrorrisiko und immer mehr Cyberangriffe. Manche Verbrechen sind spektakulär – Angriffe auf Geldautomaten, auf Munitionslager oder Waffenläden. Doch die eigentliche Gefahr liegt oft im Verborgenen, etwa bei der Geldwäsche: Es gibt immer mehr Nagelstudios, Pizzerien oder Barbershops – mehr als Bärte!
«Die Lage ist ernst»: Jacqueline de Quattro auf dem Polizeiposten von Clarens VD. Die Politikerin prangert besonders die Schwerkriminalität an.
Julie de TriboletWarum schlagen Sie gerade jetzt Alarm?
Weil wir handeln müssen, bevor es zu spät ist. Viele Länder um uns herum haben zu lange gezögert – und wurden dann überrollt. Ich will nicht, dass wir in der Schweiz irgendwann Szenen erleben wie in Frankreich, Belgien oder den Niederlanden, wo Banden mitten am Tag ihre Rechnungen mit Schusswaffen begleichen. Die grösste Gefahr lauert aber im Digitalen. Zwischen Cyberangriffen, gezielter Destabilisierung und Desinformation wird es immer schwieriger, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Das schafft ein Klima der Unsicherheit – das kann sich rasch entladen, in Frust, Wut oder Misstrauen gegenüber den Behörden.
Sie haben im Parlament an einer Motion gearbeitet, die eine schrittweise Aufstockung der Fedpol vorsieht – 200 zusätzliche Stellen bis 2035. Wollen Sie Polizisten an jeder Strassenecke?
Nein, ganz bestimmt nicht! (Lacht.) Wir brauchen keine Überwachung, sondern mehr Ermittler. Die Fedpol bekämpft Schwerkriminalität, Terrorismus, Menschenhandel, Cybercrime, Wirtschaftskriminalität, extremistische Gewalt und grosse Drogenringe. Die alltägliche Kriminalität – Einbrüche, Diebstähle, kleinere Delikte – bleibt Sache der Kantone und Gemeinden.
Warum gerade die Fedpol?
Weil die Lage ernst ist. Selbst die Bundesanwaltschaft sagt offen, dass ihr schlicht das Personal fehlt, um alle Fälle zu bearbeiten. Seit Anfang Jahr stehen 40 Verfahren auf einer Einstellungsliste – nicht auf einer Warteliste! Das heisst: Schwerwiegende Fälle müssen zugunsten anderer fallen gelassen werden. Das ist alarmierend.
Bedroht diese Entwicklung den Rechtsstaat?
Absolut. Diese Kriminellen bleiben nicht nur straffrei – sie machen einfach weiter. Im Grunde senden wir die Botschaft: Kriminalität lohnt sich. In der Schweiz riskieren Täter kaum etwas. Diese Straflosigkeit spielt den italienischen, türkischen, baltischen, chinesischen, russischen oder französischen Mafias direkt in die Hände. Sie breiten sich hier aus und teilen die Geschäfte untereinander auf – Kriminaltourismus mitten auf Schweizer Boden.
In der Waadt, wo Sie früher Sicherheitsdirektorin waren, spricht die Polizeigewerkschaft von Überlastung. Haben die Politiker das Thema Sicherheit verschlafen?
Als Staatsrätin habe ich 100 zusätzliche Polizisten gefordert – und bekommen. Aber viele unterschätzen bis heute, wie ernst die Lage ist. Wir müssen dringend mehr Mittel bereitstellen. Vor allem brauchen wir spezialisierte Ermittler in Bereichen, die regelrecht explodieren. Das heisst nicht, dass an jeder Ecke ein Polizist stehen soll. Aber es gibt bereits Orte, an die ich als Frau abends nicht mehr hingehe.
Welche?
Gewisse Quartiere in Lausanne – und in die Umgebung des Bahnhofs in Yverdon-les-Bains. Ich mache Kampfsport, kann mich verteidigen, aber selbst ich überlege mir, wo ich hingehe. Und man muss nicht einmal in die Grossstädte: In Vevey trifft man am Bahnhof täglich drei, vier Dealer. Als der Gemeinderat dort Überwachungskameras installieren wollte, hat der Stadtpräsident das Projekt mit der Begründung abgelehnt, man wolle die Bevölkerung nicht «überwachen». Das Vorhaben scheiterte an der Urne – der Drogenhandel floriert weiter.
Was sagen Sie zu den Ausschreitungen von Lausanne?
Sie haben mich schockiert. In der Schweiz gibt es rechtsstaatliche Wege, um Gerechtigkeit zu erlangen – es gibt keinen Grund, Autos anzuzünden und Geschäfte zu zerstören. Die Krawalle brachen aus, nachdem ein junger Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Er war ohne Führerschein auf einem gestohlenen Scooter unterwegs, flüchtete vor der Polizei und prallte gegen eine Mauer. Die Polizei hatte ihn verfolgt, weil er offenbar in der Nähe eines Überfalls gesehen worden war. Der Tod dieses jungen Mannes ist tragisch. Aber seien wir ehrlich: Hätte er angehalten, wie die Polizei es verlangte, würde er noch leben.
Der verstorbene Jugendliche war schwarz. Nach den teilweise rassistischen Nachrichten, die einige Lausanner Polizisten in Whatsapp-Gruppen geteilt haben – kann man nicht nachvollziehen, dass der Junge Angst hatte und deshalb floh?
Rassismus ist inakzeptabel. Polizisten müssen sich tadellos verhalten, und wer Grenzen überschreitet, muss sanktioniert werden. Aber man darf nicht verallgemeinern. Von systemischer Polizeigewalt zu sprechen, ist falsch. Natürlich gibt es Menschen, die Angst vor der Polizei haben – oft, weil sie in Ländern aufgewachsen sind, wo Behörden willkürlich oder brutal handeln. Doch das entspricht nicht der Realität in der Schweiz. Und vergessen wir nicht: Extremistische Gruppen nützen solche Situationen gezielt aus. Sie schleusen sich in friedliche Demonstrationen ein, nur um Chaos zu stiften.
Solche Aussagen kennt man von der SVP. Will die FDP das Thema Sicherheit übernehmen oder sich der rechten Hardlinerpartei annähern?
Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit Sicherheitsfragen und habe daher viel Erfahrung. Vielleicht spricht die FDP seit meiner Zeit in Bern häufiger darüber – gut so! Was die SVP betrifft: Sie erkennt die Probleme, bietet aber Lösungen an, die wir nicht teilen. Es ist falsch zu behaupten, die gesamte Kriminalität liege an der Immigration. Vielmehr spiegelt sich in der ganzen Gesellschaft eine wachsende Anspannung – Leute reagieren schneller gereizt und wütend.
Fürchten Sie nicht, dass Sie so ein falsches Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung erzeugen?
Ganz im Gegenteil: Es geht nicht darum, Angst zu schüren, sondern die Bevölkerung zu informieren – und vor allem alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um sie zu schützen. Man darf die Menschen nicht für dumm verkaufen. Zu behaupten, alles sei in Ordnung, wäre gelogen.
Die Welt ist immer mehr polarisiert, der Krieg ist zurück in Europa, Gaza leidet. Gibt es noch Hoffnung?
Es gibt tiefgreifende geopolitische Veränderungen: Autokratische Regime erstarken, Demokratien geraten unter Druck. Aber die Schweiz hat schon viele Krisen überstanden. Wichtig ist: Wir üben Selbstkritik, lassen uns nicht spalten und ergreifen die richtigen Massnahmen. Ich arbeite daran – und zum Glück bin ich nicht allein.