«Das sieht nicht schön aus, Bea!», ruft Jürg Hefti nach draussen, «Da ist alles kniehoch voll Schlamm!» Mit eingezogenem Kopf steht der 53-Jährige im Flur seines Hauses in Schwanden GL, seine Frau Beatrice (52) draussen vor der Haustür. Die Treppe, die vom Gang in den Keller führt, ist nicht mehr zu sehen. Dieser ist komplett mit Dreck gefüllt. Es müffelt, obwohl der Heizlüfter auf Hochtouren läuft. Gebückt kämpft sich Jürg Hefti durch den grösstenteils hart gewordenen Schlick an einem grossen Felsbrocken vorbei zur eingedrückten Terrassentür. Durch diese haben sich kurz vor Weihnachten Wasser und Dreck ihren Weg gebahnt, nachdem es im Gebiet Wagenrunse oberhalb des Dorfes zu neuen Erdrutschen kam. Im Garten hinter dem Haus liegt auf einem zwei Meter hohen Schutthaufen ein Tesla – angeschwemmt vom Dreck.
30'000 Kubikmeter Erdreich sind am 29. August 2023 ins Dorf gerutscht: Dutzende Häuser wurden zerstört oder beschädigt. Noch heute sind zahlrei-che Menschen evakuiert, unter ihnen Jürg und Beatrice Hefti und ihre Töchter Sina, 19, und Lea, 16. Zurzeit lebt der Berufsschullehrer mit seiner Familie im Nachbarort Schwändi GL. «Die Betroffenen sind wegen der Unsicherheit noch immer sehr belastet», sagt Hans Rudolf Forrer, Gemeindepräsident von Glarus Süd, zu dem auch Schwanden gehört.
«Sind Räumungsarbeiten im Gang, lässt die Ungeduld nach, und die Leute verspüren Zuversicht.» Manche sind durch den Erdrutsch in finanzielle Nöte geraten. «Auf dem Spendenkonto ist noch immer jeder Franken hochwillkommen.» Im Frühling beginnen die Abbrucharbeiten bei den Liegenschaften in der Gefahrenzone Rot.
Zivilschützer chrampfen
Einen Monat nachdem ihr Ortsteil ein weiteres Mal von Schlamm und Dreck heimgesucht wurde, dürfen Jürg und Beatrice Hefti erstmals in ihr Haus im Sperrgebiet Grün 1 zurück, für eine Stunde, begleitet von einem Zivilschützer. 20 Männer des Glarner Zivilschutzes sind am Chrampfen: Mit Schaufeln und grossen und kleinen Baggern legen sie die Zugänge zu den verschütteten Häusern frei, räumen Schlamm und Dreck aus diesen. Zuvor haben Bauarbeiter die Strassen von der meterhohen Rutschmasse befreit.
Ein Saugbagger holt Schlamm aus den Kellern, aus einer überschwemmten Tiefgarage werden Autos abgeschleppt, alle paar Minuten fährt ein voller Lastwagen durch die braune Sosse zur nahen Deponie. Auch Pierre Weidmanns oranges Arbeitsgwändli
ist dreckverschmiert. Der Leiter des kantonalen Zivilschutzes zeigt auf das Hausdach, auf dem einer seiner Leute Wache steht: «Er hat den gefährlichen Hang genau im Blick.»
Aus der gefüllten Garage der Heftis hat es einen verschlammten Sportsack angeschwemmt, Beatrice hängt ihn an einen Fensterladen. «Komm, das musst du sehen!» Jürg Hefti winkt seine Frau ins Haus. Diese rauft sich die Haare,
als sie die schlammgefüllte Toilette und die Waschmaschine sieht. Auch der Küchenboden liegt fünf Zentimeter unter brauner Brühe, die mit Abrieb versehenen Wände sind feucht.
«Die Sanierung wird uns viel Zeit und Kraft kosten»
Beatrice Hefti
Die ausgebildete Baufachfrau hält es nicht lange aus. Draussen vor dem Haus nimmt ihr Mann sie in den Arm. Sie wissen: In den nächsten Tagen ist der Saugbagger bei ihnen am Werk. Dann kommen Trocknungsgeräte zum Einsatz, ein Statiker wird das Gebäude untersuchen. Jürg Hefti seufzt tief. «Schon nur die Evakuierung und das Organisieren der neuen Wohnsituation hat uns viel Zeit und Energie gekostet.» Ihm graut es vor den kommenden Sanierungsarbeiten und dem ganzen Drumherum. «Hoffentlich haben wir wenigstens keine unnötigen Diskussionen mit der Versicherung.» Der angeschwemmte Felsblock wird einen besonderen Platz im neuen Garten bekommen.
Kater Minggi sucht sein Daheim
Auf dem Weg durch die Sperrzone zurück zum Auto bleibt Beatrice Hefti stehen. Auf einem Schutthaufen sieht sie ein Katzenleiterli. «Das ist von Minggi!» Die Besitzerin des 19-jährigen Katers war wie die Heftis, ihre Nachbarn, evakuiert worden. Nun wohnt sie in Rüti GL – ihren sturen Minggi, der sein ganzes Leben in seinem Quartier gelebt hat, gab sie einer Familie im Nachbarquartier in Schwanden in Obhut. Beatrice Hefti: «Minggi geht jeden Tag zum Haus, das jahrelang sein Daheim war.»
Bevor ihr Mann ins Auto steigt, schaut er zur Wagenrunse hinauf. 40 000 Kubikmeter Material sind noch oben, drohen ins Dorf zu rutschen. «Hoffentlich kommt nicht noch mehr», sagt Jürg Hefti. «Mir händ schu gnuäg vu dem Dregg!»
Das Spendenkonto der Gemeinde Glarus Süd: CH16 0680 7430 1434 7456 5, Vermerk «Rutschung Wagenrunse, Schwanden»