Sie war der grösste Weltstar der Schweiz. Tina Turner (†83), seit 2013 eingebürgert, lebte in Küsnacht am Zürichsee. Obschon sie sich längst von der Bühne verabschiedet hatte, sorgte sie musikalisch immer wieder für Aufsehen. In ihrem letzten Interview mit Blick zeigte sich die Pop-Ikone auch von einer intimen Seite: In ihrem Buch «Happiness» berichtete die Buddhistin von ihrem spirituellen Lebensweg. «Der Buddhismus», sagte sie, «hat mir buchstäblich das Leben gerettet.»
Zu ihrem ersten Todestag vom 24. Mai 2024 publizieren wir das grosse Interview mit dem unvergessenen Superstar noch einmal.
Tina Turner, Sie schreiben in «Happiness», dass Sie schon immer eine Lehrerin sein wollten und auf den richtigen Moment für dieses Buch gewartet hätten. Warum jetzt?
Heute sind so viele Menschen Widrigkeiten ausgesetzt und suchen nach Wegen, ihr Leben sinnvoll zu verändern. Meine innigste Hoffnung ist es, dass das Buch sie aufrichtet und ihnen hilft, Freude im Alltag zu finden, besonders in harten Zeiten.
Wie lautet Ihre wichtigste Botschaft?
Jeder soll wissen, dass in ihm eine Quelle innerer Kraft sprudelt. Egal, wie schwierig die Umstände sind. Wir können zwar nicht immer beeinflussen, was im Leben passiert, aber wir können steuern, wie wir damit umgehen. Das ist der entscheidende Punkt. Denn unsere Reaktionen – in Gedanken, Worten und Taten – bestimmen unser Glück. Wir haben immer eine Wahl, auch wenn es vielleicht nicht immer danach aussieht. Nicht zuletzt können wir uns stets für den positiveren Gedanken entscheiden. Es liegt an uns, wie wir Widrigkeiten wahrnehmen und was wir daraus machen. Wenn wir dies erkennen, können wir ein glückliches Leben führen, einen unerschütterbaren Zustand inneren Friedens und Freude erlangen, unabhängig von Alter und Lebensumständen. Ich habe es geschafft, und ich bin überzeugt, jeder kann es schaffen.
Sie kamen schon als Kind mit Spiritualität in Berührung. Erinnern Sie sich, wie das war?
Ja. Ich wuchs in einem baptistischen Umfeld auf, praktisch jeder dort war Baptist. Obwohl ich als Erwachsene den Buddhismus angenommen habe, habe ich das baptistische Erbe stets respektiert. Als Kind sang ich begeistert im Kirchenchor mit, und viele Jahre später nahm ich einige meiner liebsten Spirituals für die interreligiösen «Beyond»-Alben auf. Für mich beschränkt sich Spiritualität nicht auf eine bestimmte Religion. Ich war schon immer ein suchender Geist, hatte den Drang, mehr über das Leben zu erfahren. Die Verbindung zu Mutter Natur war mir von klein auf wichtig – auf den Feldern herumtollen, mit Tieren zusammen sein, nachts den mit Sternen gesprenkelten Himmel beobachten. Ich spürte überall in der Natur ein Summen, eine vibrierende Lebenskraft, von der wir alle ein Teil sind.
Sie wurden von Ihren Eltern verlassen, als Sie ein Kind waren, dann verloren Sie Ihre Cousine Margaret, Ihre engste Vertraute. Wie stark hat Sie das Gefühl des Verlassenseins geprägt?
Diese Kindheitserfahrung hat mich später im Leben dazu gebracht, die Liebe an ungesunden Orten zu suchen. Glücklicherweise wurde ich davon geheilt, durch die Hinwendung zur Spiritualität. Sie hat mich gelehrt, dass wir unabhängig davon, ob wir Elternliebe erfahren haben oder nicht, selber zur Quelle der Liebe werden können – für uns und andere. Indem ich Selbstliebe entwickelte und meine Buddha-Natur enthüllte, mein höheres Selbst, konnte ich meinen Lebensweg annehmen und Verletzungen der Vergangenheit loslassen. Ich nehme alles von ganzem Herzen an: alle Fehler, Unvollkommenheiten und harte Zeiten ebenso wie alles Gute. Ohne das ganze Spektrum meiner Erfahrungen hätte ich nicht das Leben, das ich heute führe.
Ihre Ehe mit Ike war die Hölle, Sie erlebten physische und psychische Gewalt. Wie sind Sie dem entkommen?
Das Studium und das Praktizieren der buddhistischen Prinzipien gaben mir die Kraft, mich zu befreien. Das rettete mir buchstäblich das Leben. Als ich anfing, mich spirituell zu stärken, wurde mir klar, dass ich zwar keine direkte Kontrolle darüber hatte, was mir widerfuhr, aber ich hatte die Kontrolle darüber, wie ich damit umging. Ich begann zu erkennen, was mich hemmte. Vom Buddhismus habe ich gelernt: Wenn man sich selbst und sein Leben klar sieht, kann man jede Situation verändern.
Mitte dreissig begannen Sie mit dem Chanting, dem Singen buddhistischer Gebete. Wie kamen Sie darauf?
Anfang der 1970er-Jahre wurde es immer schwieriger, die häusliche Gewalt vor meinem Umfeld zu verbergen. Wenn ich mit der Crew allein im Aufnahmestudio war, warfen sie mir manchmal Blicke zu, als wollten sie sagen: «Wann kommst du endlich aus diesem Schlamassel raus?» Eines Tages sagte ein junger Toningenieur etwas anderes: «Tina, du solltest buddhistischen Gesang ausprobieren. Es wird dir helfen, dein Leben zu verändern.» Das Chanting hörte sich allerdings an, als sei das eher etwas für College-Studenten als für eine Mutter in den Dreissigern wie mich. Also habe ich mir das aus dem Kopf geschlagen. Doch wenig später traf ich eine Frau, die mir vom Mantra «Nam Myoho Renge Kyo» erzählte. Da spürte ich, dass das Universum mir eine Botschaft schicken wollte, und ich war bereit, sie zu empfangen.
Christliche Spirituals und buddhistische Spiritualität – gibt es da Gemeinsamkeiten?
Auf jeden Fall. Religionen hängen zusammen. Die christliche Lehre der Liebe und die buddhistische Lehre des Mitgefühls überschneiden sich auf wunderbare Weise. Beide weisen uns an, dem Guten durch gütige Handlungen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Förderung der interreligiösen und interkulturellen Einheit liegt mir sehr am Herzen.
Braucht es einen erhöhten Leidensdruck, um spirituell zu werden?
Spirituelles Erwachen und Glück kann jederzeit erlangt werden, doch oft scheint es tatsächlich auf Schmerz und Leid zu folgen. Vielleicht suchen wir dann am ehesten Veränderung, wenn wir mit Unglück konfrontiert sind. Das jedenfalls war meine Erfahrung, ich kann nicht für andere sprechen.
Ihr Leben war hart, trotzdem haben Sie eine einzigartige Weltkarriere gemacht. Ist das – neben Ihrem Talent – Schicksal, Zufall oder Willenskraft zu verdanken?
Ich habe manches erlebt und erlitten, was mich hätte zerstören können. Stattdessen wurden diese Erfahrungen zu Sprungbrettern, sie trieben mich nach oben. Nachdem ich Jahre des Missbrauchs durchlebt hatte, wurde mir klar, dass ich innerlich stark war und diese Kraft anzapfen konnte. Ich wusste, wenn mir das gelingt, dann kann ich meine Träume verwirklichen und jedes Hindernis überwinden. Die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus gab mir die Handhabe, genau dies zu tun, und mein Selbstvertrauen und meine Hoffnung wuchsen. Nach und nach begann ich, an mich zu glauben, heute tue ich es felsenfest. Spirituelle Entwicklung und, ganz altmodisch, harte Arbeit haben mich befähigt, die Herausforderungen zu meistern und meine Träume zu verwirklichen, beruflich als auch privat.
Trägt Spiritualität zum Erfolg bei? Oder ist es andersrum: Führt Erfolg zum Bedürfnis nach Spiritualität?
Erfolg kann einen einigermassen glücklich machen. Doch diese Art der Erfüllung ist nicht unbedingt von Dauer und führt je nachdem sogar zu Unglücklichsein. Ich glaube, dass Spiritualität definitiv zum Erfolg beiträgt und inneren Frieden und Glück bringen kann, die unzerstörbar sind. Mein Leben ist der Beweis dafür.
Sie haben Ihr Leben lang gesungen: Als Kind in der Baptistenkirche, als Superstar Welthits vor Millionenpublikum, heute Mantras zum Gebet. Haben diese doch sehr unterschiedlichen Arten von Singen etwas Gemeinsames?
Ja. In jeder Form von Gesang liegt eine gewisse Freude. Ich kann durch Singen den Augenblick geniessen, meine ganze Gefühlspalette ausdrücken und all meine Lebenserfahrungen wertschätzen. Singen ist auch eine universelle Kunstform, sie verbindet Menschen. Das Singen von Mantras steigert meine positive Energie, meine Lebenskraft.
Warum singen wir Menschen überhaupt?
Wir haben es im Lauf der Menschheitsgeschichte immer getan, in allen Kulturen. Ich denke, wir tun es, ähnlich wie Vögel, aus verschiedenen Gründen. Mal singen wir, wenn wir glücklich sind und positive Energie an andere weitergeben wollen. Mal tun wir es, um Liebe an uns selbst zu schicken. Und manchmal singen wir, um unsere Stimmung zu heben, wenn die Zeiten hart sind. Singen ist universelle Medizin für die Seele.
Sie haben Ihre Hits unzählige Male performt – aber zahlenmässig ist das nichts im Vergleich zum Chanting des «Nam Myoho Renge Kyo», das sich seit einem halben Jahrhundert durch Ihr Leben zieht. Wie oft, schätzen Sie, haben Sie das Mantra gesungen?
Ich singe es täglich. Wie intensiv, das hat sich über die Jahre verändert. Zu Beginn meiner buddhistischen Übungen, als ich die härtesten Zeiten meines Lebens durchmachte, sang ich es jeden Tag mehrere Stunden lang. Später ging es mit weniger, um die positive Energie zu spüren. Aber Sie haben recht, ich habe die Worte «Nam Myoho Renge Kyo» im Lauf des letzten halben Jahrhunderts zig Millionen Mal gesagt.
Wird Ihnen nie langweilig dabei?
Nein. Ich liebe es, «Nam Myoho Renge Kyo» zu singen. Nach all den Jahren ist es ein Teil von mir.
Was macht die Faszination der Wiederholung aus?
Je mehr ich es gesungen habe, desto mehr positive Veränderungen konnte ich in meinem Leben feststellen. Ich habe auch immer den Rhythmus des Gebets genossen, er ähnelt jenem von Songs.
Auf Youtube wurde Ihre Interpretation des «Nam Myoho Renge Kyo» etwa sieben Millionen Mal angeklickt – die von DJ Kygo veröffentlichte Neuauflage Ihres grössten Hits «What's Love Got to Do with It» fast 20 Millionen Mal. Hätten Sie es lieber umgekehrt?
Nun, das Chanting-Video dauert zwei Stunden, der Kygo-Remix vier Minuten … Das ist schon Mal ein Unterschied (lacht). Ich freue mich sehr, dass viele Leute mein «Nam Myoho Renge Kyo» mögen, und ebenso freut es mich, dass so viele auf die neue Version von «What's Love Got to Do with It» stehen.
Sie haben unfassbar viele Schicksalsschläge erlitten, auch in den letzten Jahren: Schlaganfall, Darmkrebs, Nierenversagen … Sind Zuversicht und Willenskraft auch mal ins Wanken geraten?
Die gesundheitlichen Herausforderungen, mit denen ich in letzter Zeit zu kämpfen hatte, wären in jedem Alter nicht einfach zu bewältigen – und ich habe sie in meinen Siebzigern überstanden! Egal, wie herausfordernd es war oder noch werden könnte, ich weiss, dass nichts meinen Geist besiegen kann. Ich bin dankbar, dass mein diszipliniertes Ausüben der Spiritualität mir geholfen hat, ruhig und gefasst zu bleiben, trotz allem, was geschehen ist. Ich habe mich nie sehr lange niedergeschlagen gefühlt. Die geistige Einstellung ist immer die halbe Miete, und sie ist stark geblieben.
Leider kann man im Jahr 2020 kein Interview führen, ohne auf Corona zu sprechen zu kommen. Wie erleben Sie die Pandemie?
Es ist eine Herausforderung, besonders, weil mein Alter und die gesundheitlichen Umstände mich zwingen, möglichst zu Hause in Küsnacht zu bleiben. Es bricht mir das Herz, dass so viele Menschen auf der ganzen Welt ihre Liebsten verloren haben, und noch viele mehr ihre Existenzgrundlage. Ich möchte mit allen, die dies lesen, etwas teilen, was mir geholfen hat, harte Zeiten zu überstehen: Diese kommen einem manchmal vor wie ein nie endender Winter, ohne Aussicht auf den Frühling. Aber ich weiss aus eigener Erfahrung, dass wir, solange wir die Hoffnung hochhalten und nicht der Verzweiflung erliegen, Frieden empfinden können – egal, was passiert. Ich hoffe, dass wir durch die Pandemie den Wert des täglichen Lebens, des gewöhnlichen Alltags mehr zu schätzen wissen. Ich singe und bete jeden Tag für die Gesundheit meiner Familie, Freunde und Fans, und ich freue mich darauf, alle wiederzusehen, wenn wir diese Pandemie überwunden haben.
Als Künstlerin und Überlebenskünstlerin haben Sie selber viele Krisen durchgemacht. Beeinflusst das Ihre Wahrnehmung, wenn jetzt die ganze Welt in einer Krise steckt?
Auf jeden Fall. Das Thema meines Lebens könnte man so zusammenfassen: Gift in Medizin verwandeln. Das ist ein uraltes Konzept, vereinfacht bedeutet es: Wenn etwas Negatives auftaucht, Gift eben, haben wir die Kraft, darin den verborgenen Wert zu finden und ihn in etwas Gutes zu verwandeln, in Medizin. In jeder Krise, jeder Frustration, jeder Katastrophe steckt das Potenzial, daraus zu lernen, zu wachsen und uns zu grösserer Weisheit und Erfüllung anzutreiben. Nachdem ich begonnen hatte, den Buddhismus in mein Leben zu integrieren, entwickelte ich eine starke Zielstrebigkeit. Ich erlangte ein Bewusstsein für meine Fähigkeit, über Problemen zu stehen und aus diesen etwas Wertvolles zu machen. Dieser ermächtigende Prozess ist das Herzstück des Konzepts der Umwandlung von Gift in Medizin. Er hat mir geholfen, in jedem Lebensbereich destruktive Negativität in kreative Positivität zu verwandeln. Nun bete ich, dass die Menschheit dasselbe tut.
Auch ohne Pandemie, die den Tod allgegenwärtig macht, denken Sie mit 80 Jahren wohl über das Sterben nach. Inwiefern hilft Ihnen Ihre Spiritualität dabei?
Unsere Haltung zum Tod hat grossen Einfluss auf unsere Einstellung zum Leben. Der buddhistische Weg besteht darin, den Tod nicht zu fürchten, sondern ihn als natürlichen Teil des Lebenskreises zu sehen. Mit diesem Verständnis von Tod können wir das Leben noch mehr wertschätzen. Es führt uns die Kostbarkeit jedes Augenblicks vor Augen. Der Buddhismus lehrt, dass die Zyklen des Lebens und des Todes mit jenen des Wachseins und des Schlafens vergleichbar sind. So wie der Schlaf uns auf die Aktivitäten des nächsten Tages vorbereitet, kann der Tod als ein Zustand gesehen werden, in dem wir ruhen und Kraft schöpfen für ein neues Leben. Daran glaube ich. Und ich empfinde diese Sicht auf Leben und Tod als sehr natürlich und beruhigend.
Lohnt es sich, Fehler oder Versäumtes im Leben zu bereuen?
Vermutlich tun das viele Menschen. Aber ich bin nicht der Typ, der irgendetwas bereut. Ich hatte immer das Gefühl, dass es das Wichtigste ist, aus jeder Erfahrung zu lernen, auch aus jeder bedauerlichen. Solange wir aus unseren Fehlern oder jenen anderer lernen, können wir daran wachsen.
Was lohnt sich wirklich im Leben?
Freundlichkeit und Wertschätzung. Wenn man beides in jeden einzelnen Tag einfliessen lässt, kann man ein wunderbar lohnenswertes Leben führen.