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  3. Lebensuhr entwickelt: Zu Besuch beim Schweizer Ex-Werber und Provokateur Jean-Remy von Matt
Erfinder der Lebenszeituhr

«Ich definiert Zeit anders»

Hinter uns rieselt die Zeit weg. Vor uns liegt die Zukunft in Sekunden: ­Jean-Remy von Matt hat eine Lebensuhr entwickelt, die Zeit sichtbar macht. Besuch beim Schweizer Ex-Werber und Provokateur in Berlin.

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Jean Remy von Matt Werber und Künstler

Künstler und Werbe-Ikone von Matt in Berlin-Mitte in seinem Penthouse, das vor Extravaganz nur so strotzt. Er ist verliebt in organische Formen. Im Citroën, der mit einem Kran in das Wohnzimmer gehievt wurde, befindet sich das Homekino.

Geri Born

Das Älterwerden beginnt schon als Baby, mit dem ersten Schrei. Was danach kommt, nennt sich Leben. Je älter man wird, desto bewusster wird die eigene Vergänglichkeit. Am schlimmsten sind Geburtstage. Kerzen ausblasen, und zack – schon wieder ist man ein Jahr älter. Vor rund 25 Jahren, möglicherweise an einem besonders einsamen Geburtstag, entwickelte Jean-Remy von Matt eine Uhr, die einem vorrechnet, wie lange man noch zu leben hat. «Ob bei der Benzinanzeige im Auto oder beim Haltbarkeitsdatum von Milch: Uns interessiert doch viel mehr, wie lange etwas fährt oder frisch bleibt. Also fragte ich mich: Warum zählen wir immer die Jahre, die hinter uns liegen? Viel spannender ist doch, was noch vor uns liegt.»

2002 stellte er den Prototyp seiner Carpe Vitam Clock her. Sie zeigt die verbleibende Lebenserwartung eines Menschen in Sekunden, «damit die Uhr immer lebt». Das Ding hat eine Digitalanzeige und steht im Regal in seinem opulenten Loft in Berlin-Mitte. Es ist eigentlich ein bewohntes Museum, geschaffen aus der Fantasie der von Matts. Die 400-Quadratmeter-Wohnoase im ehemaligen Osten der Stadt erinnert an einen Filmset. Von Matt steht neben einem Steinway-Flügel. Er wollte ihn unbedingt im Penthouse haben, weil er das Design liebt. Doch seine Frau Natalie fand es stillos, einen Flügel zu kaufen, ohne spielen zu können. Sie zwang ihn, erst die «Mondscheinsonate» zu lernen. Das ist ihm gar nicht schlecht gelungen.

Von den Kaminsäulen über den spektakulären Treppenaufgang bis zur Formgebung des Daches: Ein Hingucker jagt den nächsten. Die Kuppel mit einem Nippel als Kaminschlot ist dem Busen seiner Frau nachempfunden und unter Architekten fast schon landesweit bekannt. In der Mitte des Raums sticht ein alter Citroën HY mit Unterhaltungstechnik unter der Haube ins Auge. Er wurde mit dem Kran ins Penthouse gehievt und dient dem Paar als Homekino. Da wird der ultramoderne Pool im Untergeschoss, in dem der Hausherr täglich schwimmt, direkt zur Nebensache. Jean-Remy von Matt geniesst es, als Rentner in den Tag hineinzuchillen. Heute will er nur noch Künstler sein. Mit seinen 70 Jahren hat der smarte Schweizer viele Gefahren überlebt. Er führte ein Leben auf der Überholspur, Reisen, Luxus, Macht, Erfolg – das volle Programm. Als Chef einer der erfolgreichsten unabhängigen Werbeagenturen der Welt sorgte er mit Kult-Kampagnen wie «Geiz ist geil!» oder «Bild dir deine Meinung» für Furore. 1991 gründete er die Agentur Jung von Matt (5 Filialen, 1500 Mitarbeitende). «Als Werbetexter war mein Prinzip: Wenn du Menschen schon Zeit stiehlst, musst du ihnen dafür etwas bieten.» Das scheint ihm auch in seinem neusten Job als Uhrmacher gelungen zu sein.

Jean Remy von Matt Werber und Künstler

Von Matt mit Technikpartner Vasco Barbosa aus Lissabon im Atelier. Rund 60 der Uhren hat er gebaut. Preis: 3500 Euro pro Stück.

Geri Born

Seine Erfindung lässt niemanden kalt. Unternehmerin Regine Sixt hat eine von ihm selbst gebaute Uhr, ebenso die ukrainische Boxlegende Wladimir Klitschko, Verleger Florian Langenscheidt oder Eva Wannenmacher, Moderatorin der Sendung «Kulturplatz». Auch Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat eine persönliche Uhr bekommen. «Als ich ihn Jahre später einmal fragte, wo seine Uhr nun stehe, meinte er, er hätte sie noch nicht mal ausgepackt.»

Es ist nicht jedermanns Sache, mit der Endlichkeit konfrontiert zu werden. «Im Schnitt sind wir für rund 4000 Wochen auf diesem Planeten. Allerdings gilt das für uns Männer, denn Frauen bekommen noch 200 Wochen obendrauf, auch weil sie weniger Blödsinn machen.» Von Matt zählt auf, dass Verkehrsunfälle, Mord- und Totschlag, Alkoholmissbrauch, aber auch die Weigerung, zum Arzt zu gehen, typisch männlich seien. Die Sekundenzahl programmiert von Matt nach dem neusten Stand der Versicherungsmathematik. Zeit ist Geld, heisst es im Volksmund. Doch stimmt das wirklich?

Jean Remy von Matt Werber und Künstler

Jean-Remy von Matt machte als Werber Weltkarriere. Er hat drei Wohnsitze. Das Loft in Berlin-Mitte hat seine Frau eingerichtet. Er sagt: «Berlin ist eine Stadt, in der ich vielleicht nie angekommen bin.»

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«Zeit ist die viel härtere Währung. Geld kann man vermehren. Aber wenn die Zeit weg ist, hilft kein Geld der Welt mehr.» Ein Herzenswunsch des Künstlers: Vom Erlös jeder Uhr (deren Preis beträgt 3500 Euro) gehen 1000 Euro an ein Kinderhilfswerk im Tschad, wo die Lebenserwartung nur 54 Jahre beträgt. Jean-Remys Werk erinnert optisch ein wenig an einen Mini-Grabstein. «Hat man sich selber überlebt, ist auf dem Display Folgendes zu lesen: die Zeit ist abgelaufen. Danach rechnen die Sekunden wieder hoch – quasi als Belohnung für einen umsichtigen Lebensstil.» Die Chance, die Null zu erleben, liegt bei 50 Prozent. Was passiert, wenn man sich selber überlebt? Auf die Frage, wie er sich seinen eigenen Tod vorstellt, antwortet er: «Lieber auf einem Tennisplatz als unter einem Tram. Und auf keinen Fall zu spät.»

«Es geht um die Symbolik der Vergänglichkeit, um unser Zeitbudget.» Zurzeit hat er eine Ausstellung im NRW-Forum in Düsseldorf, wo er Teil der Ausstellung «Beyond Fame» ist. Nächstes Projekt: eine digitale Sanduhr, bei der man noch eindrücklicher sieht, wie der Rest des Lebens herunterrieselt. Das Projekt stellt er am 11. Oktober in Zürich vor. Es ist eine Aufforderung, Schluss zu machen mit Zeitfressern, sich mutig von toxischen Jobs und Beziehungen zu lösen. «Die grösste Zeitverschwendung ist für mich die Begegnung mit langweiligen Menschen.» Sicher ist: Dank der Uhr in seinem Wohnzimmer geht er umsichtiger mit sich, seinem Körper, seinen Gedanken um. Er isst gesünder, gönnt sich Pausen und macht täglich 15 Minuten Sport. Eine Investition, die sich auszahlt: Glatt würde man ihn zehn Jahre jünger schätzen. Auch wenn seine Lebensuhr etwas ganz anderes anzeigt.

Jean Remy von Matt Werber und Künstler

Video-Traumpaar: Von Matt nennt seine Frau Natalie Flöckchen. Die medienscheue Designerin ist fürs opulente Interieur zuständig.

Geri Born
Von Caroline Micaela Hauger am 7. Oktober 2023 - 07:00 Uhr