«Schön, sind Sie wieder hier! Da geht bei mir jedes Mal die Sonne auf», sagt Geneviève Pantli zur Begrüssung und schüttelt ihrem Gast lange die Hand. Wie jeden Montagnachmittag bekommt die 97-Jährige daheim Besuch von Caterina Vogelgesang (58). Diese ist Freiwillige beim Besuchs- und Begleitdienst des kantonalen Roten Kreuzes. Dieser ist für Menschen da, die sich allein fühlen. Von Einsamkeit betroffen sind vor allem ältere Männer und Frauen.
«Kommen Sie», fordert Geneviève Pantli die Besucherin auf. Mit dem Rollator tippelt die Witwe in die Küche. Ihre Sehschärfe hat stark nachgelassen, alles geht bedächtig. Zusammen machen die zwei Frauen Kaffee, dann nehmen sie in der Stube Platz. Die eloquente Gastgeberin fängt gleich an zu berichten: Vor zwei Tagen sei ihr beim täglichen Spaziergang im Quartier ein junger Mann aus der Nachbarschaft begegnet. «Wir hatten einen lustigen Schwatz. Dabei erkundigte er sich nach meinem Alter. Als ich ihm dieses verriet, ging er vor lauter Staunen auf die Knie.» Geneviève Pantli und Caterina Vogelgesang lachen. Schon stecken sie mitten in einer kurzweiligen Plauderei über Gott und die Welt.
Die Gastgeberin ist in Paris geboren und aufgewachsen, lebt seit 70 Jahren in der Schweiz. Ihrem Gast erzählt sie aus ihrer Jugend, von den Tagebüchern, die ihr Vater während der zwei Weltkriege geschrieben hatte. «Sie sind ein wandelndes Geschichtsbuch, eine kluge Frau mit Humor», sagt die SRK-Freiwillige, «ich lerne viel von Ihnen.» Im Hintergrund läuft Radio Swiss Classic, «den ganzen Tag», wie die Seniorin betont.
Bücher sind ihr wichtig
Geneviève Pantlis Tagesablauf ist geregelt: Nach dem Frühstück legt sie sich wieder eine Weile hin, nachmittags macht sie eine Runde durchs Quartier. «Am liebsten sind mir die Abende.» Nach den 18-Uhr-Nachrichten bereitet sich die Seniorin Znacht zu, um 20 Uhr schaltet sie den Fernseher ein, für «La grande librairie», eine Literatursendung auf France 5. Sie seufzt: «Wenn ich nur noch besser sehen würde! Früher habe ich viel gelesen, das fehlt mir sehr. Lesen Sie mir doch bitte etwas vor!» Die SRK-Freiwillige steht auf. Sie weiss, wo in der Bücherwand eines der Lieblingsbücher der Gastgeberin steht: «Les feuilles d’automne» von Victor Hugo. Caterina Vogelgesang liest das Gedicht «La Prière pour tous» vor – die Stellen, die ihr besonders gut gefallen, hat Geneviève Pantli früher mal markiert. «Wie schön! Das tut meiner Seele so gut», sagt die Seniorin.
Die Zeit vergeht. Die Gastgeberin wirft einen Blick auf die Wanduhr: «Zeit für unseren Spaziergang!» Dieser und der Besuch eines Cafés gehörenfest zum montäglichen Programm. Caterina Vogelgesang hilft der Gastgeberin in den Mantel. Auch auf dem Spaziergang entsteht ein munteres Gespräch. Die beiden verbindet ein vertrauensvolles Verhältnis, sie telefonieren regelmässig miteinander, um sich zu erkundigen, wie es der anderen geht. «Ihre Besuche sind eine Wohltat», sagt Geneviève Pantli beim Abschied. «Ihre Gesellschaft macht mich jedes Mal glücklich. Davon zehre ich die folgenden Tage.» Caterina Vogelgesang nickt. «Auch mir bedeutet unsere Bekanntschaft viel. Ich freue mich schon auf den nächsten Montag.» Die Seniorin lacht. «Kommen Sie ja nicht zu spät!»
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Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit dem SRK.