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Deutsche Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann

«Abschreckung ist das Gebot der Stunde»

Mehr Militärhilfe für die Ukraine, Aufrüstung in Europa: Die deutsche Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann warnt vor einem kriegerischen Flächenbrand. «Nur wer Stärke zeigt, kann Angriffe ­abwehren», so die EU-Parlamentarierin.

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«Ich muss mich immer noch zurechtfinden, gehe manchmal Umwege.» Marie-Agnes Strack-Zimmermann vor dem Gebäude des EU-Parlaments in Brüssel.

«Ich muss mich immer noch zurechtfinden, gehe manchmal Umwege.» Marie-Agnes Strack-Zimmermann vor dem Gebäude des EU-Parlaments in Brüssel.

Kurt Reichenbach

Besuch aus der Schweiz – da freut sich Marie-Agnes Strack-Zimmermann (66). «Meine Patin lebte in Basel», sagt sie fröhlich und bittet ins Büro. Seit Mitte Juli hat die forsche und beliebte Politikerin hier in Brüssel im EU-Parlament Einsitz genommen. Die ehemalige Bürgermeisterin von Düsseldorf musste dafür aus dem Deutschen Bundestag austreten. «Das tat nur im ersten Moment etwas weh.» Wie bereits in ihrer Heimat ist sie nun auch im 720-köpfigen EU-Parlament Vorsitzende des Verteidigungsausschusses.

Frau Strack-Zimmermann, woher stammt Ihr Interesse für Verteidigung?

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, hatte ich als Kommunalpolitikerin und Bürgermeisterin 24-jährige Erfahrung. In dieser Zeit habe ich mich für viele Themen interessiert und engagiert. Nach dem Fall der Mauer habe ich nie daran geglaubt, dass mit dem Ende des Kalten Krieges auch das Ende der Geschichte erreicht sei. Ich war stets davon überzeugt, dass man sich schützen muss vor den Despoten dieser Erde. Mit der erneuten Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten werden alte Gewissheiten verschwinden und Herausforderungen auf uns zukommen, die nicht angenehm sein werden.

Kommen gefährliche Zeiten auf uns zu?

Die heutige sicherheitspolitische Lage ist hochgefährlich. Durch den brutalen russischen Überfall auf die Ukraine vor 1000 Tagen sind weitere militärische Konflikte in Europa nicht mehr unmöglich. Abschreckung ist das Gebot der Stunde. Nur wer bereit und in der Lage ist, sich zu verteidigen, wird sein Land nachhaltig schützen können.

Das ist Rhetorik aus dem Kalten Krieg!

Ich habe grosses Verständnis dafür, dass Menschen Angst haben, verunsichert sind und jene Stimmen am Liebsten hören, die Friedensverhandlungen mit Putin propagieren. Aber wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass Putin völlig anders tickt. Diese über Jahrzehnte entstandene Brutalisierung im Inneren der russischen Gesellschaft, wo der Starke von Beginn des Lebens an den Schwachen bricht, können wir uns nicht vorstellen. Das ist aber die Realität, und die ist bitter.

«Wir lebten nach dem Motto von Pippi Langstrumpf: Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt», so Strack-Zimmermann.

«Wir lebten nach dem Motto von Pippi Langstrumpf: Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt», so Strack-Zimmermann.

Kurt Reichbach

Jetzt hat US-Präsident Biden erlaubt, dass die Ukraine Langstreckenwaffen der USA auch in russisches Gebiet abfeuern darf …

… endlich und überfällig. Es hätte vor 1000 Tagen grünes Licht für die Ukraine geben müssen. Und zwar ohne darüber ständig zu debattieren. Der Überraschungseffekt ist weg. Russland hatte immer genügend Zeit, sich auf den Einsatz solch wirkungsvoller Waffen vorzubereiten. Somit ist Putin der geschundenen Ukraine stets einen Schritt voraus. Das ist doch unfassbar, dass wir solche Diskussionen öffentlich überhaupt führen.

Die Angst vor einer Eskalation und dem Abschuss einer Atombombe ist doch real?

Dieses Szenario holt Putin immer wieder hervor, um uns alle zu verunsichern. Er wurde nicht nur von den USA, China und Indien gewarnt, eine solche Waffe einzusetzen, er weiss, dass dies auch sein Land massiv in Mitleidenschaft ziehen würde. Putin ist nicht frei von persönlicher Angst. Während der Coronapandemie hat er – wir erinnern uns – aus Sorge, sich anzustecken, sich weit entfernt von anderen Menschen aufgehalten.

Marie-AgnesStrack-Zimmermann

Die 66-jährige Deutsche hat sich als Verteidigungspolitikerin der FDP profiliert. Seit 45 Jahren ist die Düsseldorferin mit Horst Strack-Zimmermann, 83, verheiratet. Das Paar hat drei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. Die promovierte Dr. phil. wurde dieses Jahr ins EU-Parlament gewählt, wo sie den Verteidigungsausschuss präsidiert.

In Europa macht sich Kriegsmüdigkeit breit, mehr und mehr wird darauf gedrängt, dass die Ukraine Terrain abgibt.

Das russische Narrativ wirkt. Mal runtergebrochen auf unser Leben: Ihr Nachbar dringt in ihre Wohnung ein, um ihre Wohnung zu übernehmen. Sie rufen die Polizei zu Hilfe, und deren Antwort wäre, sie sollten sich nicht so haben, ein Zimmer könnten sie zumindest abgeben. Dann wäre auch endlich wieder Ruhe im Haus, denn die Nachbarn fühlten sich durch diesen Streit schon genervt. Die russische Propaganda ist toxisch und wird von rechten und linken Putin-Freunden verbreitet.

Klar ist, die Bevölkerung hat Angst.

Wir wurden im Laufe der Jahrzehnten so sozialisiert, dass demokratische Staaten wie selbstverständlich in Frieden leben und nie auf die Idee kämen, einen Nachbarn zu überfallen. Mit ein Grund, dass wir selbst den USA gegenüber sehr kritisch waren, als diese den Irak angegriffen haben. Demokratien brauchen dennoch starke Armeen, um sich verteidigen zu können, wenn Schurken sie bedrohen. Kurz: Wir lebten ignorant und naiv und haben Pippi Langstrumpfs Motto kultiviert – wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt.

«Ich wollte das kleine Büro und meinen Mitarbeitern das grosse geben. War nicht einfach mit der EU-Bürokratie», so Strack-Zimmermann mit ­einem Schmunzeln.

«Ich wollte das kleine Büro und meinen Mitarbeitern das grosse geben. War nicht einfach mit der EU-Bürokratie», so Strack-Zimmermann mit einem Schmunzeln.

Kurt Reichbach

Die EU ist ja aber ein Friedensprojekt: Das ist ihr Ursprung, das ist ihr Sinn!

Weil die EU das grösste Friedensprojekt ist, haben wir die Verpflichtung, diese zu verteidigen. Es gibt keine vergleichbare Union, in der es 80 Jahre in Folge keinen Krieg gibt und wo sich 27 Nationen, die sich immer und immer wieder den Schädel eingeschlagen haben, eine Gemeinschaft bilden. Wenn Russland mit dem Angriff auf die Ukraine Erfolg haben sollte, und sei es, sie behielten nur einen Quadratmeter der Ostukraine, dann wird das die Blaupause auch für andere Despoten – nicht nur in Europa – sondern weltweit sein. Dann wird Bosnien-Herzegowina und Kosovo vor Serbien zittern, Taiwan vor China, Südkorea vor Nordkorea und Japan vor Russland. Wladiwostok liegt nur 941 Kilometer von Tokio entfernt. Berlin übrigens nur 676 Kilometer von der russischen Enklave Kaliningrad.

Deutschland ist neben den USA der grösste Geldgeber und Waffenlieferant für die Ukraine. Sind Sie stolz darauf?

Ich wäre glücklich, das wäre alles nicht erforderlich. Richtig ist aber, dass ganz Europa auf Deutschland schaut. Tragisch, dass wir einen Kanzler haben, der auf der einen Seite die Zeitenwende ausgerufen hat, inzwischen aber wirkungsvolle Waffen an die Ukraine verhindert.

Grund dafür ist ja die Angst vor einer Eskalation.

Wir sind bereits russischen hybriden Angriffen ausgesetzt. Russland karrt Flüchtlinge an die Grenzen zu Polen. Putin lässt die Kornkammer in der Ukraine verminen und verhindert somit die Ausfuhr von Getreide in die ärmsten der armen Länder, um die Menschen zur Flucht zu bewegen, denn Migration löst grosse Unruhe in Europa aus. Wir erleben täglich Cyberangriffe. Ganz zu schweigen von Angriffen auf unsere Infrastruktur. Auch der Weltraum ist gefährdet. Was geschieht, wenn unsere Satelliten ausfallen?

«Putin ist nicht frei von persönlicher Angst»

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Die EU müsste genau deshalb ja mit einer Stimme sprechen und stark sein, aber sie fällt immer mehr auseinander.

Die EU stand nach dem Überfall wie eine Eins zusammen. Selbst die grössten Europa-Skeptiker waren überrascht. Jetzt hat die EU es auch organisiert bekommen, der Ukraine die dringend benötigte eine Million Schuss Munition zukommen zu lassen. Richtig ist aber, dass die Länder sehr unterschiedlich engagiert sind, was die Unterstützung der Ukraine betrifft. Zwischen medialer Ankündigung und praktischer Lieferung liegen bei manchen europäischen Staaten Welten.

Der ungarische Präsident Viktor Orbán biedert sich doch bei Putin an.

Das ist in der Tat sehr unerfreulich, wie Viktor Orbán die Nähe zu Putin sucht und damit den eigenen europäischen Partnern regelmässig den Mittelfinger zeigt, trotzdem aber EU-Mittel einsteckt.

Bricht die EU auseinander?

Sie ist ohne Zweifel mehr denn je gefordert, auch weil es inzwischen viele Anti-Europäer ins Parlament geschafft haben. Ein russischer Militärerfolg würde die Sicherheit Europas enorm gefährden. Deswegen wird es auch in Zukunft zum ersten Mal in der Geschichte der EU einen Verteidigungskommissar geben.

Was erwarten Sie von der Schweiz?

Keiner spricht der Schweiz ihre Neutralität ab. Es ist wichtig, einen Raum in Europa zu haben, in dem auch der internationale Austausch stattfinden kann. Aber auch ein neutrales Land, das weder Mitglied in der EU noch in der Nato ist, sollte einen Wertekompass haben und seine politischen Entscheidungen entsprechend ausrichten. Dass die Schweiz verboten hat, Munition, die Deutschland bei ihr herstellen lässt, in die Ukraine zu liefern, war nicht nachvollziehbar. Ich bin immer wieder und gern zu Besuch in der Schweiz und werde nach wie vor auf diese Vorgang angesprochen. Die wenigsten haben diese restriktive Politik verstanden. Die Schweiz hat als neutrales Land im Zweiten Weltkrieg sowohl Granaten an die Wehrmacht als auch an die Alliierten geliefert und eine Menge Geld damit verdient. Ich will nicht moralisieren, aber der Hinweis darf erlaubt sein, dass ein Land, das sehr viel Geld mit der Herstellung von Waffen und entsprechender Munition verdient, sich die Frage stellen lassen muss, warum man der Ukraine, die völkerrechtswidrig überfallen worden ist, kein Material zur Verfügung stellt, damit sie sich wehren kann. Selbstverständlich sollte jeder vor seiner eigenen nationalen Tür wischen. Ich befürchte aber, dass es illusorisch ist, zu glauben, dass bei einem möglichen Angriff auf Europa die Schweizer Grenze sakrosankt ist.

Sie beschreiben, wie fragil die Situation auf der Welt ist – gleichzeitig schaffen es drei Parteien in Deutschland nicht, eine Regierung zu bilden. Das erstaunt uns in der Schweiz.

Eine Drei-Parteien-Koalition auf nationaler Ebene kennen wir in der Tat nicht. Wir haben nicht voneinander geträumt, als es darum ging, in eine Koalition zu gehen, aber wir haben es versucht. Diese Zusammenarbeit von SPD, Grünen und der FDP hätte eine Erfolgsgeschichte werden können. Der Angriff von Russland auf die Ukraine 70 Tage nach Bildung der Koalition hat aber viele Gewissheiten verändert.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen könnte Ihre Partei, die FDP, aus dem Parlament fliegen, die Umfragen sehen schlecht aus.

Wir werden selbstverständlich dem nächsten Bundestag angehören. Wir gehen jetzt in einen sehr komprimierten Wahlkampf und werden Menschen davon überzeugen, dass es gut ist, wenn die Liberalen mit an der Regierung sind. Im Übrigen bin ich ein ausgesprochen zuversichtlicher Mensch. Ich fahre mit Leidenschaft seit Jahrzehnten Motorrad. Mein Fahrtrainer hat mir mal eine Weisheit mitgegeben: «Guckst du scheisse, fährst du scheisse.» Heisst übersetzt, immer aus der Kurve heraus schauen. Dies gilt nicht nur auf den Alpenpässen in der Schweiz. Es gilt auch fürs Leben. Man sollte nicht dorthin schauen, wo man nicht hinwill, sondern dorthin schauen, wo man hinwill.

«Guckst du scheisse, fährst du scheisse – heisst: immer aus der Kurve rausschauen»

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Wie nah sind Sie als EU-Abgeordnete noch bei der Bevölkerung?

Ich glaube, dass für viele die EU etwas sehr Abstraktes ist. Obwohl sie die Vorteile der Europäischen Union zu schätzen wissen. Ich bin mehrmals mit dem Motorrad von Deutschland nach Griechenland gefahren und musste nirgendwo meinen Ausweis zeigen. Das war wirklich grenzenlos wunderbar.

Und was tun Sie gegen überbordende Bürokratie?

Die Kommission nerven, die Standpunkte klarmachen, Mehrheiten im demokratischen Spektrum überparteilich und über Länderinteressen hinweg bilden und entsprechende Resolutionen verabschieden.

Die Schweiz verhandelt im Moment einen neuen Vertrag mit der EU. Setzen Sie sich für die Schweiz ein?

Es gibt viele gute Beispiele der Zusammenarbeit, Schweizer und deutsche Beamte sichern gemeinsam die Grenzen, um Schleusern das Handwerk zu legen und illegale Migration zu verhindern. Es gibt Abkommen, an die wir uns alle gewöhnt haben, so das Schengen-Abkommen, das den EU-Bürgern ermöglicht, frei in die Schweiz einzureisen. Ich würde mich immer für Kompromisse einsetzen. Ich bedauere sehr, dass die Schweiz nicht der EU beitreten will. Einen Teil der Souveränität müsste man halt abgeben, um auch die Vorteile der Union zu bekommen.

MR
Monique RyserMehr erfahren
Von Monique Ryser am 22. November 2024 - 12:00 Uhr