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  4. Wolodimir Selenski kämpft mit seinem Volk in der Ukraine – ein Porträt über den ukrainischen Präsidenten

Der ukrainische Präsident kämpft mit seinem Volk

Wer ist Wolodimir Selenski?

Als Kandidat hat er nicht damit gerechnet, gewählt zu werden, nun ist er die wichtigste Figur Europas: Präsident Wolodimir Selenski wirft sich wie ein Löwe in den Kampf für die Demokratie in der Ukraine. Und nimmt den Westen in die Pflicht.

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Ukrainian President Volodymyr Zelensky is seen as he visits the border troops in Donetsk, Ukraine on February 17, 2022. President of Ukraine visited the frontline positions of the military in the Donetsk region//04SIPA_1846.02195/2202231406 (FOTO: DUKAS/SIPA)
In voller Kampfmontur. Selenski einige Tage vor dem Einmarsch der Russen bei einem Truppenbesuch im Osten der Ukraine. Dukas

Es gibt Menschen, denen das Schicksal eine besondere Rolle zuweist. In einem kurzen Moment entscheidet sich, wie sie in die Geschichte eingehen – und ob sie ihrer Rolle gewachsen sind. Diesen Moment hat Wolodimir Selenski am Abend des 23. Februar 2022. Am Tag vor dem Einmarsch der russischen Truppen richtet er sich in einer Videobotschaft an die russische Bevölkerung: «Die Ukraine hasst Russland nicht, es gibt keinen Grund, Feinde zu sein.» Da seine Appelle an den Herrn im Kreml unbeantwortet geblieben sind, sieht er keine andere Möglichkeit, als sich direkt an das Volk des Nachbarlands zu wenden. Doch alles nützt nichts: Tags darauf erklärt Russland der Ukraine den Krieg.

Die Wahrheit als Waffe

Die Welt ist in Schockstarre, die ukrainische Bevölkerung verschreckt, entsetzt und voller Angst. Und wie- der meldet sich Selenski per Video: «Guten Morgen an alle Ukrainer», sagt der übernächtigte Präsident zu seinen Landsleuten. Das Lächeln am Anfang ist wie eine Umarmung ans ganze Land, die Worte zeigen Stärke und Entschlossenheit. «Es gab viele Falschinformationen. Wir hätten unserer Armee gesagt, sie sollte die Waffen niederlegen und evakuieren. Hört! Wir werden die Waffen nicht niederlegen – unsere Waffe ist die Wahrheit.» Die Ukrainerinnen und Ukrainer, ja die ganze Welt sollte sehen: Aufgeben ist keine Option. Widerstand bis zum Letzten – vom Staatschef bis zu allen, die sich verteidigen können.

Wolodimir Selenski

26. Februar 2022. «Unsere Waffe ist die Wahrheit.» Selenski im Selfievideo.

AFP

In wenigen Tagen hat sich der 44-Jährige zum Symbol der Freiheit, des Muts und des Widerstands gemacht. Aber auch zum Verteidiger eines friedlichen, demokratischen Europas. Jedes Bild von ihm – seit Kriegsbeginn in militärgrüner Kleidung – hält der Welt vor Augen, wie schändlich Krieg ist.

Nichts ist heilig im Krieg

Selenski ist das Ziel Nummer 1 der russischen Kriegsführung. «Und meine Familie ist das Ziel Nummer 2», wie er seinem Volk eröffnet hat. Niemand weiss, wo sich seine Ehefrau Olena, die Tochter Aleksandra und Sohn Kiril befinden. Niemand weiss, wo die ukrainische Regierung ihre Kommandozentrale hat. Bekannt ist hingegen: An die 400 Söldner der russischen Miliz Gruppe Wagner sind auf Selenski und seine Lieben angesetzt. Nichts ist heilig im Krieg, weder die Kinder eines Staatspräsidenten noch alle anderen Kinder und unschuldigen Menschen. Es gilt nur die Kraft des Stärkeren, des Brutalen, des Gnadenlosen. Die Opfer sind die Schwächsten. «Allein gestern sind 16 Kinder getötet worden. Wir wollen doch nur, das unsere Bevölkerung, dass unsere Kinder am Leben bleiben. Ich denke, das ist ein berechtigter Wunsch», sagt Selenski bei seiner Videoansprache vor dem EU-Parlament am Dienstag.

Man sagt, die Wahrheit sei das Erste, was im Krieg stirbt. Klar ist, dass alle Seiten so gut wie möglich die Hoheit über die Informationen behalten wollen. Der kaltblütige Angriff des Herrschers im Kreml auf die Ukraine ist der art verabscheuungswürdig, dass klar ist, auf welcher Seite sich ein zivilisierter Mensch positionieren muss. Dass aber nun weltweit für die Ukraine demonstriert wird, dass die westlichen Länder geeint und schnell harte Sanktionen beschlossen haben, dass das EU-Parlament für Beitrittsverhandlungen gestimmt hat – das alles ist dem Mann zu verdanken, der seine berufliche Karriere als Komödiant und Kabarettist begonnen hat, zum Filmstar und schliesslich Staatschef geworden ist.

Wolodimir Selenski

Vor dem Krieg. Selenski (l.) mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron und dem russischen Herrscher Putin.

Alexei Nikolsky/TASS

Geboren wurde Wolodimir in Krywyj Rih in der Ostukraine. Seine Mutter ist Ingenieurin, der Vater Kybernetiker. Die Gegend, in der er aufwuchs, ist kommunistisch geprägt, mit Stahlindustrie, Eisenminen und Plattenbauten. Wolodimir studiert Rechtswissenschaften und lernt an der Uni die gleichaltrige Architekturstudentin Olena kennen. Die beiden heiraten 2003. Tochter Aleksandra kommt 2004 zur Welt, Sohn Kiril 2013.

Diener des Volkes im TV

Als Jurist arbeitet Selenski nie, vielmehr zieht es ihn in die Schauspielerei. Mit seiner Komödiantentruppe Kwartal 95 tourt er durch Russland und bringt die Menschen zum Lachen. Später gründet er ein Filmstudio und eine Produktionsfirma, in der Ehefrau Olena als Drehbuchschreiberin arbeitet. Mit der Teilnahme an der ukrainischen Version von «Dancing with the Stars» wird er bekannt, den Durchbruch erzielt er als Hauptdarsteller der Serie «Diener des Volkes» (zurzeit in der Arte-Mediathek). Darin verkörpert der 1,66 Meter grosse Selenski einen Geschichtslehrer, der mit vielen slapstickartigen Verrenkungen zum Präsidenten der Republik wird.

Wolodimir Selenski mit Familie

Glückliche Tage: Selenski mit Ehefrau Olena und den Kindern Aleksandra und Kiril.

Instagram

Seine Fangemeinde ist so gross, die Serie ein derartiger Erfolg, dass Selenski im wirklichen Leben als Präsident kandidiert – und es am 21. April 2019 wird. Seinen Wählerinnen und Wählern verspricht er die Bekämpfung der Korruption und die Versöhnung zwischen den Landesteilen im Westen und Osten. Aber Politik ist kein Filmskript und das Einlösen von Versprechen braucht oft länger, als sich das selbst motivierte Amtsträger vorstellen können. Die Beliebtheit des Präsidenten sinkt in dem Mass, wie er in politischem Klein-Klein aufgerieben wird.

Doch als im letzten Jahr die Drohungen aus Russland gegen sein Land immer lauter werden, kommt Selenski im Amt an. In der Antrittsrede als Präsident des Landes, das seit 30 Jahren eine Demokratie ist, sagt er den folgenden Satz: «An all die Länder der ehemaligen Sowjetunion – schaut auf uns, alles ist möglich!» Es ist die Aussage eines stolzen Demokraten, eines Mannes, der die Ukraine mit ihrem ganzen Wesen verkörpert. Und der seit dem 24. Februar mit seinen Landsleuten die Demokratie in Europa verteidigt – gegen den Machtrausch eines Einzelnen.

Monique Ryser
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Von Monique Ryser am 4. März 2022 - 20:09 Uhr