Diese Idylle – sie mutet fast zynisch an. Zynisch, wenn man weiss, dass hier vor wenigen Stunden ein Drama passiert ist. Mittwoch, früher Morgen, rund 20 Arbeiter – die meisten sind bei den Titlis-Bahnen angestellt – beginnen mit ihrer Arbeit auf der Gerschnialp, 1300 Meter über Meer. Sie wollen das Förderseil der Gondelbahn Engelberg–Trübsee um fast drei Meter kürzen. Es hat sich in den wärmeren Jahreszeiten ausgedehnt. Die Revision ist seit Langem geplant, die Gondeln sind abgehängt. Routinearbeit.
Eine Routine mit Risiko. Denn: Das Förderseil ist 40 Tonnen schwer, der Durchmesser etwa so breit wie ein Tennisball. Mit einer temporären Anspannung ziehen die Arbeiter das Seil zusammen, sodass eine Art Schlaufe entsteht. Oder anders gesagt: ein entspanntes Stück Seil. An dieser Stelle soll gekürzt werden. Doch noch bevor die Arbeiter loslegen können, löst sich die Anspannung.
Das Förderseil schnellt ruckartig nach oben, ebenso das Hilfsseil, mit dem die Anspannung fixiert war. Mit voller Wucht knallen die beiden Seile auf die Wiese – und auf die, die dort arbeiten. Ein langjähriger Mitarbeiter Ende 50 stirbt, sechs Personen sind verletzt, darunter ein Lehrling.
«Man muss sich das wie eine Explosion vorstellen», sagt Geny Hess, 73, ehemaliger Hotelier und über 30 Jahre im Verwaltungsrat der Titlis-Bahnen.
Er steht in seinem Weinladen in Engelberg OW, im Gesicht ein Durcheinander aus Gefühlen, aber das deutlichste ist: Schmerz. Eben hat er erfahren, dass ein Mann das Unglück nicht überlebt hat. Hess hat ihn nicht gekannt. «Aber wenn hier oben einer stirbt, trauert das ganze Dorf.»
Ein Drama in Engelberg – ausgerechnet bei den Titlis-Bahnen! «Sie sind unser Lebensnerv», sagt Hess – und wenn er das sagt, hat das eine doppelte Bedeutung. Engelberg lebt vom Tourismus. «Die Bergbahnen sind unser grösster Arbeitgeber.» Aber er hat noch eine andere Verbindung. Sein Urgrossvater, Eugen Hess, gilt als Pionier der Bergbahnen. Ende des 19. Jahrhunderts engagierte er sich als Erster für eine Bahn ins ewige Eis – damals ein unglaublich kühner Plan!
Heute transportieren die Titlis-Bahnen 1,2 Millionen Touristen pro Jahr. Bei den Asiaten gehört der Titlis auf Europareise zum Pflichtstoff. Am Unglückstag stehen sie dicht an dicht, als wäre nichts geschehen. Vor den Kassen kontrolliert eine Frau, dass Einzelpersonen nicht bei den Gruppen anstehen, weil eigentlich ist es ja angeschrieben, aber eben. Und in der Toilette geht das Papier aus.
Aufregung herrscht hingegen drüben in Asien. «Die Schlagzeile wurde von den Medien sofort aufgenommen», sagt Hans Wicki, 55, an der Pressekonferenz im noblen Hotel Terrace, «aber das macht mir keinen Kummer.»
Der ehemalige FDP-Bundesratskandidat präsidiert den Verwaltungsrat der Titlis-Bahnen. Als er vom Unglück erfährt, sitzt der Ständerat in der Session in Bern. Sofort fährt er nach Engelberg. Besucht als Erstes die Angehörigen des Verstorbenen, ein Mann aus dem Engelbergertal, verheiratet, mehrfacher Vater, seit über 20 Jahren bei den Bergbahnen tätig. Seine Kinder sagen, er habe seine Arbeit geliebt, aber auch um das Risiko gewusst.
«Heute ist der schwärzeste Tag in der Geschichte unseres Unternehmens», sagt Wicki, «die Sicherheit war stets das oberste Gebot.» Nun kam alles anders. Warum sich die Anspannung löste, wer dafür verantwortlich ist, das ermitteln die Behörden noch. «Wir werden alles tun, um herauszufinden, was passiert ist», sagt Wicki und schaut ins Leere. «Aber letzten Endes bleibt die Frage: warum?»