Verteidigungsministerin Viola Amherd, 60, schreitet in ein Armeezelt – ihr Kommunikationschef trägt ihre Handtasche, ihr militärischer Berater ihren Mantel. Frauen sind die prägenden Figuren am diesjährigen World Economic Forum in Davos. Olena Selenska, 44, die ukrainische First Lady, ist der absolute Stargast. Jeder versucht, einen Blick auf sie zu erhaschen, doch sie wird hermetisch abgeriegelt. Die Sicherheitsbedenken sind berechtigt. Der ukrainische Innenminister kommt bei einem Helikopterabsturz zu Tode, während Olena Selenska durch Davos geschleust wird. Falls beim Weltwirtschaftsforum ein Ernstfall eintreten würde, stehen die Soldatinnen und Soldaten in der Turnhalle der Schule Bünda bereit. «Achtung, Patient!», ruft einer, als ein «Verletzter» auf einer Bahre an Viola Amherd vorbeigetragen wird. Der Bundesrätin wird erklärt, wie sich die Armee für einen Angriff oder ein Unglück mit vielen Verletzten bereithält. Der Soldat, der den Verletzten spielt, gibt für seine Chefin vollen Einsatz und stöhnt laut vor Schmerzen.
«Meine Zeit als Boxer hilft»
Wladimir Klitschko, warum sind Sie und Ihr Bruder Vitali dieses Jahr wieder ans WEF gereist?
Wir müssen verhindern, dass die Welt den Krieg in der Ukraine vergisst. Gewöhnt man sich an diesen Zustand, beginnt man die Medienberichte irgendwann auszublenden und wird kriegsmüde. Da ärgert man sich höchstens noch über die hohen Energiekosten, die der Krieg verursacht, aber nicht mehr über all die toten Zivilisten.
Wie halten Sie den zermürbenden Zustand in Ihrer Heimat aus?
Man kann nichts planen. Aber die Mentalität aus meiner Zeit als Boxer hilft mir. Wie beim Sport geht es auch in diesem Kampf um Ausdauer und Agilität. Diese Fähigkeiten muss die Ukraine nutzen.
Was möchten Sie von der Schweiz?
Politik und Wirtschaft sind eine Einheit, deshalb ist es für uns sehr wichtig, hier in Davos zu sein. Vor allem aber wünschen wir uns die Lieferung schwerer Waffen. Wir wollen, dass die russischen Angreifer unser Land verlassen – mit den Füssen
Was in Davos zum Schmunzeln bringt, ist in der Ukraine Kriegsalltag. Auf das Thema angesprochen, betont Amherd, dass die Schweiz bereits viel tue, um den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen. Olena Selenska aber, das weiss auch die Armeechefin, würde sich von Europa am liebsten Panzer und Munition schicken lassen – die Forderung machte die Präsidentengattin am WEF noch einmal deutlich. Eine Entscheidung, die nicht bei Amherd liegt. «Ich fühle mit Olena Selenska», sagt sie. Doch die hiesigen Gesetze über den Kriegsmaterialexport könne man deshalb nicht missachten. Trotz des Kriegs in der Ukraine – das WEF hat dieses Jahr wieder volle Fahrt aufgenommen. Man will sich zeigen und in der Lobby des Hotels Steigenberger Belvédère fliegen die Floskeln hin und her wie in einem Taubenschlag: «Great to see you!», «Let’s talk later!» und «We need to catch up!»
Es ist das erste vollständige WEF seit Corona. Und der erste Auftritt auf internationalem Parkett für Neu-Bundesrat Albert Rösti, 55. Bei der Pressekonferenz mit dem deutschen Vizekanzler Robert Habeck, 53, ist ihm die Anspannung anzumerken. Während Habeck ihn aus Versehen als «Kollege Rössli» betitelt, bewegt Rösti die Lippen, geht konzentriert seinen Text durch. «Nervös war ich nicht», sagt er danach, «aber es war ein wichtiger bilateraler Kontakt, da ist natürlich die nötige Spannung dabei.»
Robert Habeck sprach in seiner Rede von den Wirtschaftskapitäninnen und Wirtschaftskapitänen, welche dieses Jahr ans WEF gereist sind. Eine Anrede, die den Frauen beim Anlass der Ringier-Initiative EqualVoice gefallen dürfte. Julie Teigland ist eine hochrangige Managerin bei Ernst & Young, hat über 100 000 Mitarbeitende unter sich. Angie Gifford ist bei Meta (ehemals Facebook) Vizechefin für Europa, den Nahen Osten und Afrika. Die beiden technikaffinen Managerinnen setzen sich dafür ein, dass Frauen es ihnen gleichtun. Keine Selbstverständlichkeit, wie die Anekdote von Ringier-Finanzchefin Annabella Bassler unterstreicht: Das Programm «Chat GPT» ist dieses Jahr die Lieblingsspielerei der WEF-Teilnehmer. Die Software basiert auf künstlicher Intelligenz und beantwortet alle möglichen Fragen. «Als ich die Software fragte, was ich meinem neunjährigen Sohn zum Geburtstag schenken sollte, kamen stereotype Antworten wie etwa Videogames», sagt Bassler. «Für meine Patentochter empfahl mir das Programm ein Puppenhaus.» Ähnlich klischiert berät die Software bei der Berufswahl die Jungen («Ingenieur») und Mädchen («Gesundheitswesen»). Doch, so Bassler, «innert weniger Tage verbesserte sich das Programm und die Antworten waren plötzlich vielseitig und nicht mehr auf alte Rollenbilder beschränkt».
«Sie kennen meine Schwäche»
John Kerry, Sie kommen seit vielen Jahren nach Davos. Was ist diesmal anders?
Es sind mehr CEOs hier als üblich. Das ist eine sehr gute Entwicklung. Die Wirtschafts-Chefs spielen die entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels.
Was halten Sie von den jungen Klimaaktivisten?
Ich finde sie super! Was sie machen, beeindruckt mich total. Ich war in meiner Jugend ja auch
ein Aktivist. Greta Thunberg habe ich schon mehrmals getroffen. Und falls sie dieses Mal auch ans WEF kommt, würde ich sie sehr gerne wiedersehen.
Sie gehen über die Promenade in Davos, während andere VIPs sich chauffieren lassen. Warum?
Ich liebe es zu laufen. Auch zu meiner Zeit als Secretary bin ich in Davos immer viel lieber spaziert, statt ins Auto zu steigen.
Haben Sie wieder Sugus gekauft, so wie letztes Jahr am WEF?
Ha, Sie kennen meine Schwäche! Ich brauche tatsächlich immer wieder etwas Süsses. Anders gehts nicht.
Lernt die künstliche Intelligenz schneller dazu als das WEF? Immerhin hat das Gipfeltreffen in den Bergen dieses Mal 27 Prozent weibliche Teilnehmende – mehr als je zuvor. Eine besonders umtriebige ist Pascale Bruderer, 45. Die ehemalige SP-Ständerätin aus Baden AG ist Stiftungsrätin der Schwab Foundation. Die von WEF-Gründer Klaus Schwab, 84, und seiner Frau Hilde, 76, gegründete Stiftung fördert das soziale Unternehmertum. Regelmässig bringt Pascale Bruderer am WEF Unternehmerinnen und Unternehmer mit Schulklassen zusammen. Dieses Jahr sitzen Schülerinnen und Schüler aus der Kanti Baden im Foyer einer Primarschule in Davos – Klötzliparkett und Garderobe statt Teppichetage und Cüpli. Doch was besprochen wird, trifft den ursprünglichen Gedanken des WEF. Soziale Unternehmer aus der ganzen Welt diskutieren mit den 60 Jugendlichen ihre Geschäftsmodelle. «Wann ist jemand arm?», will der erste Referent wissen. «Sollte man Geld damit verdienen, die Umwelt zu schützen?», fragt der nächste. Die Schülerinnen setzen zu Gegenfragen an. «Warum sollte ich ein soziales Unternehmen gründen und nicht einfach ein ganz normales?», fragt einer.
«Diese Diskussion ist uns wichtig», sagt Bruderer. «Natürlich darf und soll ein Unternehmen Profit machen. Wie die Beispiele heute zeigen, kann es gleichzeitig noch viel mehr bewirken.» Und wer weiss, vielleicht hat der Ausflug nach Davos bei manchen Unternehmerinnen der nächsten Generation bereits etwas bewirkt.