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20 Jahre nach 9/11

«Immer die Frage: Wieso darf ich leben?»

Er flüchtete vor brennenden Trümmern, schaute in den Lauf eines Revolvers, entkam knapp dem Tod: Der Walliser Benoît Bosi sagt 20 Jahre nach 9/11: «Die Narben bleiben. Darüber sprechen fällt schwer.»

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9/11 Benoit Bosi mit seiner Familie in New York

Benoît mit Michelle und Sohn Cédric, 19, im Battery Park, Manhatten. Cédric wurde am Vortag des Dramas gezeugt. «Ich halte den Gedanken nicht aus, dass ich ihn nie kennengelernt hätte», so Benoît.

Peter Lueders

Kurz vor neun Uhr morgens an diesem 11. September 2001 entsteigt Benoît Bosi, Finanzanalyst bei der Deutschen Bank, der Subway. Es riecht nach Gas und Kerosin, Polizisten drängen die Pendler die Treppen hinauf. Auf dem Platz der Türme des World Trade Centers (WTC) herrscht Chaos. Bosi flieht vor herumfliegenden Trümmern, bringt sich bei der Deutschen Bank in Sicherheit, fährt in sein Büro im 32. Stock, nur wenige Meter vom WTC-Südturm entfernt. Hier erfährt er vom ersten Flugzeugeinschlag, telefoniert kurz mit seiner Ehefrau Michelle und sieht zu, wie ein zweites Flugzeug in den Turm nebenan rast. «Noch heute kommt mir alles unwirklich vor. Ich sah den Südturm wanken, sah Feuer und Rauch – und der Himmel war strahlend blau.»

Bosi und seine Kollegen verlassen das massiv beschädigte Gebäude. In diesem Moment stürzt der Südturm ein. Hinter einer kleinen Mauer geht er in Deckung, reisst eine regungslose Asiatin mit sich. «In diesem Moment habe ich gebetet und Gott gesagt: Jetzt liegt alles in Deiner Hand.» Mit letzter Kraft rettet er sich und die Asiatin in eine Pizzeria – und schaut in den Lauf eines Revolvers. Der Besitzer weiss nicht, was los ist, und muss erst darüber aufgeklärt werden, dass Terroristen das Undenkbare getan haben: An diesem Tag werden zivile Passagierflugzeuge zu tödlichen Waffen.

Benoit Bosi mid Frau Michelle und Baby CŽdric in New York Fotos: HervŽ Le Cunff GESPERRT

Ein Jahr danach. Michelle und Benoît mit Baby Cédric vor Ground Zero, der Wunde des Terrors in Manhattan.

Hervé Le Cunff / «Schweizer Illustrierte» / RDB
Das ist Terror, das ist Krieg

Bosi und seine Kollegen verlassen das massiv beschädigte Gebäude. In diesem Moment stürzt der Südturm ein. Hinter einer kleinen Mauer geht er in Deckung, reisst eine regungslose Asiatin mit sich. «In diesem Moment habe ich gebetet und Gott gesagt: Jetzt liegt alles in Deiner Hand.» Mit letzter Kraft rettet er sich und die Asiatin in eine Pizzeria – und schaut in den Lauf eines Revolvers. Der Besitzer weiss nicht, was los ist, und muss erst darüber aufgeklärt werden, dass Terroristen das Undenkbare getan haben: An diesem Tag werden zivile Passagierflugzeuge zu tödlichen Waffen.

Als um 8.46 Uhr American-Airlines- Flug 11 in den Nordturm der 420 Meter hohen Zwillingstürme kracht, vermutet man erst einen Unfall. Um 9.03 Uhr bohrt sich United Airlines 175 in den Südturm. Jetzt ist klar: Das ist Terror, das ist Krieg. Kurz darauf die Meldung, dass zwei weitere Maschinen entführt wurden; mit einer wird das Pentagon in Washington attackiert, die andere stürzt über Pennsylvania ab.

Bosi kann seiner Frau erst Stunden später ein Lebenszeichen geben. Das Telefonnetz ist zusammengebrochen, während die ganze Welt per TV den Attacken folgen kann. Später wird bekannt, dass in den Linienmaschinen Todgeweihte per Mobiltelefon letzte Nachrichten an ihre Liebsten richteten, dass mutige Passagiere versuchten, die Flugzeugentführer zu stoppen. Manhattan versinkt unter Trümmern, giftigem Staub und Rauch – das fordert neben den offiziell gemeldeten 2996 Opfern der Terroranschläge noch Hundertschaften an toten Helfern von Feuerwehr und Rettungsdiensten.

9/11 Benoit Bosi mit seiner Familie in New York

Die ganze Familie mit Cédric, Amélie, 14, und Louis, 18. Im Hintergrund das One World Trade Center – das heute höchste Gebäude in New York wurde als Trutzburg gegen den Terror erstellt.

Peter Lueders
«Noch heute fällt es mir schwer, ­darüber zu sprechen»

Ich weiss nicht, ob ich die Bilder je aus dem Kopf bekomme», sagt Bosi einige Tage nach dem Anschlag. Die Macht der Bilder und die Ohnmacht vor dieser Gräueltat vereinen die Welt kurzfristig in Solidarität. Und in Zustimmung zur Kampfansage der USA, den Krieg gegen den Terror zu starten und in Afghanistan und Irak einzumarschieren. Kriege, die den Terror nicht ausmerzen werden, sondern zu Tausenden weiteren Toten führen. «Noch heute fällt es mir schwer, darüber zu sprechen», sagt Bosi. Auch sei stets diese Angst da, wenn die Kinder aus dem Haus gingen.

Jedes Jahr sitzt der Walliser während der Gedenkfeier vor dem TV, hört zu, wie die Namen aller Todesopfer vorgelesen werden. «Da sei immer auch ein Schuldgefühl, «ob ich genug aus meinem Leben mache, ob ich als Überlebender genügend zurückgebe». Deshalb engagiert er sich für ein Hilfswerk in Haiti. An diesem 11. September wird Benoît Bosi erstmals nicht vor dem Fernseher sitzen. Sondern in einem Football-Stadion. Die Uni seines Sohnes tritt gegen Notre Dame an. Er freut sich auf das Kultspiel, weiss aber, das seine Gedanken häufig abschweifen werden.

Monique Ryser
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Text: Monique Ryser am 11. September 2021 - 14:40 Uhr