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Star-Herzchirurg René Prêtre

Als Jungvater in die Pension

Er hat Tausenden Kindern das Leben gerettet. Nun tritt der weltweit renommierte Herzchirurg René Prêtre in den Ruhestand. Was ihn bei seiner Arbeit am meisten erfüllte und welchen Traum er nun wahr machen möchte.

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René Prêtre avec sa compagne Sybille leur fils Bastien et l'enfant de Sybille Ishan à Zermatt.

In Zermatt, seinem zweiten Zuhause: René Prêtre mit Partnerin Sibylle Domig, Söhnchen Bastien (Mitte) und Domigs Sohn Ishan.

Blaise Kormann

Wenn das Leben eines Kindes an einem seidenen Faden hängt, ist René Prêtre zur Stelle. Der Kinderherzchirurg hat Tausende kleine Brustkörbe geöffnet, hat Babyherzen operiert, winzig wie Walnüsse – und Tausende Leben gerettet. 40 Jahre nach seiner ersten Operation (eine Leistenhernie) geht der 65-jährige Leiter der Herz- und Gefässchirurgie am Universitätsspital Lausanne am 1. August in den Ruhestand. «Durch meinen Beruf habe ich Menschen glücklich gemacht. Das ist die schönste Befriedigung», zieht der Schweizer des Jahres 2009 Bilanz.

Nach all den Jahren, in denen er eine Herausforderung nach der anderen angenommen habe, sei es an der Zeit zu verschnaufen. «Ich freue mich darauf, zu entspannen und mit meinen Liebsten Zeit zu verbringen. Wegen meiner Arbeit kamen sie oft zu kurz.»

René Prêtre avec sa compagne Sybille leur fils Bastien et l'enfant de Sybille Ishan à Zermatt.

Innige Verbindung: René Prêtre und sein jüngster Sohn Bastien.

Blaise Kormann

Im November 2020 kam sein jüngster Sohn Bastien zur Welt. Ein Covid-Baby, scherzten er und seine Lebensgefährtin Sibylle Domig, 45, damals. Die Oberwalliserin und der gebürtige Jurassier sind seit Sommer 2019 ein Paar, sie arbeitet im Spital als seine Assistentin.

Wenn Prêtre sein neues Leben skizziert, träumt der sportbegeisterte Arzt bereits davon, mit seinem Sohn an der Hand durch Fussball- und Hockeystadien zu laufen. «Sie haben eine sehr enge Bindung – gehen etwa zusammen ins Babyschwimmen», sagt Sibylle, die Sohn Ishan, 11, in die Beziehung brachte. Auch Prêtre hat zwei Töchter aus erster Ehe – Tatiana, 33 und Camille, 36, – und ist Grossvater von zwei Enkelinnen.

Sechs Wochen möchte sich René Prêtre eine Pause gönnen. Für die Zeit danach ist sein Kopf bereits voller Pläne: Reisen, rund um den Globus Vorträge halten, vielleicht ein zweites Buch schreiben – sein erstes Werk, «In der Mitte schlägt das Herz», war ein riesiger Erfolg (siehe Box Seite 26).

Vermehrt antreffen wird man Prêtre auch im Wallis: Am Fuss des Matterhorns besitzt er eine Ferienwohnung, in der er bereits heute nach anstrengenden Wochen Kraft tankt. «Es war schon immer ein Traum, auf den Gipfel dieses mythischen Bergs zu stei- gen. Leider ist er nun durch das lange Warten vielleicht ausgeträumt. Ich muss schauen, wie ich in Form bin.»

René Prêtre - Archives Personnelles fournies par lui-même

Mit den Töchtern aus erster Ehe: Tatiana (r.) und Camille. Letztere hat selber zwei Töchter.

ZVG

Prêtres Form ist zweifelsfrei hervorragend. Das beweist er Mitte April, als er ein Baby mit Geburtsfehler operiert. Bis sieben Stunden steht er fast bewegungslos auf einem halben Quadratmeter, um die Blutgefässe mit einem Durchmesser von Spaghetti erst zu trennen, dann zu nähen, abzudichten, kurz: zu reparieren.

All das mit äusserster Präzision und der Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs. Ab und zu trinkt er mit dem Strohhalm, den ihm ein Assistent unter seine Maske reicht, aus einem Glas einen Schluck Wasser.

«Meine Eltern sahen mich als Landwirt, andere als Rinderzüchter, die weniger Weitsichtigen als Fussballer»

Für Prêtre besteht das Geheimnis seines Erfolgs aus einem Mix aus Erfahrung und einem sehr geordneten Leben. «Wenn ich arbeite, trinke ich zum Essen am Abend davor höchstens ein Glas Wein, schlafe sieben Stunden, esse ein Croissant nach dem Aufstehen und oft nichts mehr bis zum Abend.» Viel Zeit für Sport bleibe da nicht: ein wenig joggen, E-Bike fahren und schwimmen. «Es ist wie beim Fussball: Wenn man einen Match nach dem anderen hat, braucht man nicht mehr zu trainieren.»

Operieren ist für René Prêtre viel mehr als ein Job – es ist eine Leidenschaft. Dafür ist er auf der ganzen Welt anerkannt. «Mit ihm zu arbeiten, ist, wie mit Roger Federer Tennis zu spielen», schwärmt Professor Dave Hitendu, Herzchirurg am Kinderspital Zürich, wo Prêtre von 2002 bis 2012 Chefarzt war. «An seiner Seite habe ich alles gelernt: Präzision, Perfektion, Geduld.»

Auch Prêtre hat seine Zeit im Kispi in bester Erinnerung: «Im Kinderspital habe ich meine schönsten Transplantationen durchgeführt, die erste vor 30 Jahren.» Dann beschreibt er das seltsame Gefühl, wenn man mehrere Minuten lang vor einem klaffenden Loch in der Brust des Patienten steht. «Eine Spannung, nahe an der Angst, ob und wann das gerade implantierte Herz zu schlagen beginnt, und dann die Rührung, wenn man die ersten Schläge sieht.»

Portrait du chirurgien dans une des salle d'opération du CHUV

«Der Roger Federer der Herzchirurgie», schwärmt ein Kollege von René Prêtre.

Blaise Kormann

Prêtre, das einstige Spielmachertalent in der ersten Liga des FC Boncourt, war nicht für diese aussergewöhnliche Medizinkarriere bestimmt. «Meine Eltern sahen mich als Landwirt, andere als Rinderzüchter und die weniger Weitsichtigen als Fussballer», sagt der Literatur- und Filmliebhaber und lacht. Ein Freund schrieb ihn in letzter Minute an der Medizinischen Fakultät in Genf ein.

Von da an ging es Schlag auf Schlag. Er machte 1982 sein Arztdiplom und 1988 den FMH- Titel in Allgemeiner Chirurgie. Von seinem Mentor ermutigt, arbeitete er zwei Jahre lang an der New York University, wo er sich auf Herzchirurgie spezialisierte und zwischen Notaufnahme und Operationssaal 100-Stunden-Wochen absolvierte. Nach kurzen Aufenthalten in London und Paris kehrte er 1994 nach Genf ans Universitätsklinikum zurück, wo er den Titel eines Privatdozenten erhielt. «Dort habe ich 1991 mein erstes Kind operiert», erinnert er sich.

Obwohl man in diesem Alter sein Potenzial noch nicht voll ausschöpfen kann, habe er das Gefühl gehabt, dass ihm die Arbeit leichtfalle. «Gleichzeitig fürchtet man immer das Risiko, einen Fehler zu machen, der die Karriere ruiniert, bevor sie überhaupt begonnen hat.» Besonders in der Herzchirurgie, einem sehr wettbewerbsintensiven Bereich. «Aber mit harter Arbeit, Talent und etwas Glück kann man diese Klippen überwinden.»

«Die Auszeichnung Schweizer des ­Jahres 2009 hat die Herzchirurgie ins Rampenlicht gerückt»

«Er ist mit Abstand der beste und erfahrenste Kinderchirurg in Europa», ist Dave Hitendu überzeugt. Dieser Ruf verbreitete sich schnell über die Schweizer Grenzen hinweg und weckte das Interesse von ausländischen Kliniken. Doch sie hatten bei Prêtre keinen Erfolg. «Wenn ich diesen Beruf wegen des Geldes gemacht hätte, hätte ich mich weder für die Pädiatrie noch für öffentliche Krankenhäuser entschieden», sagt Prêtre.

Er wollte sich edleren Zielen widmen. 2007 gründete er die Stiftung Le Petit Cœur, deren Vorsitzender er ist. 15 Tage im Jahr arbeitet er mal in Kambodscha, mal in Mosambik. In Maputo, Mosambiks Hauptstadt, ist er am 9. Januar 2010, als ihn die Fernsehzuschauer zum Schweizer des Jahres 2009 küren. «Die Auszeichnung hat den Lauf meines Lebens verändert und die Kinderherzchirurgie ins Rampenlicht gerückt.»

Zwölf Jahre später bereitet sich René Prêtre darauf vor, die grosse Bühne zu verlassen. Was er mitnimmt? Die Erinnerung an die Freudentränen und den Jubel, den sein Erfolg auslöst. Lachend zeigt er auf die Pralinenschachteln in seinem Büro. «Wenn ich all die Geschenke, die ich bekommen habe, getrunken und gegessen hätte, wäre ich Alkoholiker und Diabetiker.» 

Text: Christian Rappaz am 22. Mai 2022 - 18:09 Uhr