Gratuliere, Angela!», «Guete Tag, Frau Landammann» – auf der Hauptgasse in Appenzell freuen sich Einheimische über ihre erste Frau Landammann. Angela Koller (41) muss sich noch daran gewöhnen. Auf dem Platz vor dem Gymnasium St. Antonius auf dem Gelände des ehemaligen Kapuzinerklosters begrüsst der technische Abwart Stefan Sutter die Frischgewählte lachend: «Me Gontner mönd zemehäbe, göll.»
Im Ostflügel hat die neue Vorsteherin des Erziehungsdepartements des Kantons Appenzell Innerrhoden jetzt ihr Büro. Sie kennt das Gelände in- und auswendig: «Sechs Jahre lang habe ich hier das Gymi besucht.» Im Büro steht ein grosser Blumenstrauss als Wöllkomm auf dem Pult, sonst wirkt der kleine Raum noch karg. «Es braucht ein wenig Zeit, bis ein Stück Angela zu sehen ist.»
Anders in ihrem Haus: Da spürt man Angela kurz nach dem Betreten des Wohnzimmers. Ein über zwei Wände gefülltes Bücherregal sticht ins Auge, ein TV-Apparat fehlt: «Ich lese fürs Leben gern», verrät sie.
Begegnung mit Heimatklang: Vor ihrem neuen Büro trifft Angela Koller auf Abwart Stefan Sutter – beide stammen ursprünglich aus Gonten.
Geri Born / Schweizer IllustrierteSie ist ein echter Bücherwurm
Ihre Eltern führten ein Wirtshaus in Gonten. Da gingen Handwerker, Politikerinnen und Lehrer ein und aus. Sie diskutierten und philosophierten am Stammtisch über Gott und die Welt. Da steckte sich Angela Koller mit dem Virus Politik an. Noch gut erinnert sie sich, wie sie als siebenjähriges Mädchen 1990 dem Appenzeller Bundespräsidenten Arnold Koller Blumen überreichen durfte. Ihr Vater verfolgte jeden Tag am TV die «Tagesschau». Dabei musste sie still neben ihm sitzen. Für die kleine Angela blieben viele Fragen offen. «Antworten holte ich aus den Büchern», sagt sie.
Seit der Primarschulzeit verschlingt sie Wälzer um Wälzer. «Manchmal sind es zehn Bücher, in denen ich parallel lese.» Sachbücher, Autobiografien, Romane. Auf Instagram gibt sie Lesetipps, jüngst zum Beispiel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete» von Lukas Maisel, «Der liebevolle Erzähler» von Olga Tokarczuk oder «Sieben kurze Lektionen über Physik» von Carlo Rovelli.
Infos holt sie sich aus Podcasts: «Dieses Genre finde ich genial. Ich lasse kein ‹Echo der Zeit› aus.» Noch etwas liebt die Politikerin: «Ich empfange mit Freude Gäste.» Da wird gefachsimpelt wie in alten WG-Zeiten: «Ich studierte Jura in Freiburg und lebte mit vier Juristinnen und einem griechischen Erasmus-Studenten zusammen.»
Nach dem Studium zog es sie – wie viele Heimweh-Appenzeller – zurück in die Heimat. «Ich reise gern, immer mehr zieht mich der Norden in seinen Bann.» Norwegen sei wunderschön, vor Jahren verbrachte sie gar einmal zwei Monate in Kanada. «Doch i bi e Heeweh-Födle.»
Diskutieren und debattieren gefällt ihr. Das Gschpüri für Menschen hat sie aus der Zeit im Gastgewerbe. In den Ferien arbeitete sie im Berggasthaus Alter Säntis und im Hotel Appenzell im Hauptort.
Schritt für Schritt in Richtung Zukunft: Die ledige Angela Koller will Mut machen, sich zu engagieren, besonders jungen Frauen.
Geri Born / Schweizer IllustrierteEin neues Kapitel beginnt
Am heutigen Morgen kommt ihre langjährige Freundin Monika Rüegg Bless auf einen Kaffee vorbei. Sie ist Frau Statthalter und Vorsteherin des Gesundheits- und Sozialdepartements – und sitzt mit Angela Koller in der siebenköpfigen Standeskommission des Kantons Appenzell Innerrhoden, die exekutive Regierung, vergleichbar mit dem Regierungsrat in anderen Kantonen. «Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte eine Frau Landammann und zwei Frauen in der Regierung», sagt Rüegg Bless stolz. Die spätere Bundesrätin Ruth Metzler war die erste.
Entschuldigend sagt Angela zu Monika: «Meine Stimme ist etwas belegt. Ich spüre, dass der Schlaf in den letzten Tagen zu kurz kam.» Am Tag ihrer Wahl feierte ihre Mutter Monika Rechsteiner ihren 69. Geburtstag, ihr Vater Alfred Koller an ihrem ersten Arbeitstag seinen 75. Doch Akkuprobleme sind dem Energiebündel fremd. Und wenn sie Power benötigt, holt sie diese an ihrem Kraftort Seealpsee.
Eine Eigenheit im Kanton: Die sieben Mitglieder der Regierung tragen Titel wie Landesfähnrich, Bauherr, Landeshauptmann, Säckelmeister, Statthalter, Stillstehender Landammann und Regierender Landammann. Es ist Tradition, dass sich die beiden Landammänner im Rhythmus von zwei Jahren in den Rollen als Regierender und Stillstehender Landammann abwechseln.
Traditionen stehen in Appenzell Innerrhoden über allem. «D Fraue ond d Saue ehaltid s Land», lautete das geflügelte Wort zur Hochblüte der Appenzeller Handstickerei. Mädchen lernten schon im Primarschulalter die ersten Stiche und halfen nach der Schule und in den Ferien mit, die Aufträge zu erfüllen. Wen wunderts, hat Appenzell Innerrhoden das Frauenstimmrecht als letzter aller Kantone erst vor 35 Jahren eingeführt.
Beim Käfele mit Freundin Frau Statthalter Monika Rüegg Bless. Es ist das erste Mal, dass zwei Frauen in der Kantonsregierung in Appenzell Innerrhoden sind.
Geri Born / Schweizer IllustrierteZwischen Tradition und Aufbruch
Angela Koller ist sich bewusst: «Meine Wahl ist ein historischer Moment für Innerrhoden.» Bei der Totalrevision der Verfassung im Grossen Rat im letzten Jahr – sie war Kommissionsvorsitzende – habe sie viele Frauen gehört, die sich eine stärkere Repräsentation wünschten. «Das hat bei mir den Ausschlag zur Kandidatur gegeben. Man kann nicht immer nur mehr Frauen in der Politik fordern. Frauen müssen sich auch zur Verfügung stellen. Das habe ich gemacht.»
Jetzt wolle sie vor allem auch jungen Frauen ein Vorbild sein. Diese ermutigen, sich politisch einzusetzen, sich zu engagieren. Für sie selber war es 1999 als 16-jähriges Mädchen etwas ganz Besonderes, als Ruth Metzler (60) Bundesrätin wurde. Ein Vorbild ist für sie ihre Mutter: «Eine starke, bodenständige Frau, die sich zu wehren wusste.» Klar ist der neuen Frau Stillstehenden Landammann aber auch: Frausein ist nur ein Aspekt, im Mittelpunkt steht die Sachpolitik.
Ihr Rucksack für dieses Amt ist voll bepackt.
Nach dem Jus-Studium war sie Bezirksrätin, Grossrätin, Präsidentin der Arbeitnehmendenvereinigung und sass in der Landesschulkommission. Im Vollzeitjob leitete die Mitte-Politikerin das Departementssekretariat Gesundheit und Soziales in Appenzell Ausserrhoden. Sie zählt auf die Erfahrung von 24 Amtsjahren, davon acht in Exekutivbehörden. «Nach meinem Leitsatz ‹Luege, lose, laufe› lege ich nun los!» Eine weitere Tradition verlangt das: In Appenzell Innerrhoden tritt man das neue Amt gleich am Wahltag an.