Anita Winter trägt fünf graue Kartonschachteln ins Zimmer. Eine schwere Last, obwohl die Schachteln kaum etwas wiegen. Der Inhalt jedoch zeugt von unvorstellbarer Unmenschlichkeit. «Es bedeutet mir viel, dass wir das archivieren dürfen», sagt sie.
Sie öffnet die erste Schachtel. Darin sind Briefe aus und ins Konzentrationslager Auschwitz, manche Stellen wurden von den Nazis mit schwarzer Farbe zensuriert. Ein weiteres Relikt der Geschichte: die KZ-Uniform eines Überlebenden. «Seine Familie hat sie unserer Stiftung anvertraut», erklärt Anita Winter. Vor genau 80 Jahren wurde das Vernichtungslager in Polen befreit, der 27. Januar gilt heute als Holocaust-Gedenktag.
Im Archiv von Winters Stiftung hat es Überbleibsel von Überlebenden – aber auch von Tätern, etwa diese Nazi-Abzeichen.
Joseph KhakshouriVor einigen Jahren hat Anita Winter erfahren, dass weltweit die Hälfte der Holocaust-Überlebenden in finanziell schwierigen Verhältnissen lebt. «Das hat mir schlaflose Nächte bereitet. Ich wollte einen kleinen Beitrag leisten.» 2014 gründete sie die Stiftung Gamaaral Foundation, die sich um Überlebende in allen Landesteilen der Schweiz kümmert, etwa wenn jemand Zahnarztrechnungen, Hörgeräte oder Medikamente nicht bezahlen kann.
Doch es geht um mehr als um Hilfe. Die Stiftung bewahrt die Erinnerungen von Überlebenden. «Eine Frau erzählte mir einmal: ‹Im Warschauer Ghetto sagten die Menschen: Wenn nur jemand überlebt – bitte erzählt, was passiert ist.›» Anita Winters Stimme ist leise, ihre Worte sind gut überlegt.
«Die Arbeit bei der Stiftung ist ein Wettlauf gegen die Zeit.» Anita Winter in ihrer Stube. Feierabend gibt es für sie fast nie.
Joseph KhakshouriDie Zürcherin sammelt Dokumente, Zeugnisse, alte Fotos und Relikte – und sie hat über 100 Überlebende interviewt, zum Teil stunden- oder gar tagelang. «Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Wir müssen so viel wie möglich aus diesen Geschichten lernen.» Denn die Zeitzeugen werden immer weniger – in der Schweiz gibt es nur noch rund 300 Holocaust-Überlebende.
Das Schweigen der Eltern
Anita Winter wuchs in Baden AG auf. Ihre Eltern mussten vor den Nazis fliehen. Ihre Mutter wurde 1934 in Nürnberg geboren, ihr Vater 1922 in Heilbronn. Mutter Margrit Fern war als Mädchen von einem der ersten Deportationszüge gesprungen und lebte später zeitweise versteckt und unter falschem Namen in einem christlichen Kloster in Frankreich. Ihr Vater Walter Strauss überlebte die Reichskristallnacht in Berlin, bevor er 1939 in die Schweiz floh.
«Meine Mutter hatte kein einziges Kinderfoto oder Spielzeug»
Anita Winter
«Ich hatte eine schöne Kindheit», erinnert sich Winter. Ihre Mutter sprach nicht viel über die Vergangenheit. Hin und wieder ein kurzer Hinweis: ein Blick auf eine Löwenzahnpflanze und die Worte, dass sie sich einst davon ernährt hätte. «Sie wollte uns schützen. Aber man spürte eine Lücke in ihrer Familiengeschichte. Sie hatte keine Kinderspielsachen, keine Kinderfotos.» Der Vater sprach mehr. «Er sagte immer: Man dürfe nicht vergessen. Damit es nie wieder passiert.»
Diese Worte haben Winter geprägt. Sie konzipierte mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich die Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors», die in zahlreichen Ländern gezeigt wurde. Sie vertritt das Coordinating Board of Jewish Organizations im Menschenrechtsrat der Uno in Genf und erhielt für ihren Einsatz das deutsche Bundesverdienstkreuz.
«Ich bin stolz auf sie.» Sohn Manuel Winter besucht seine Mutter im Stiftungsbüro in der Zürcher Altstadt.
Joseph KhakshouriAm Mittag schaut Sohn Manuel (32) kurz im Stiftungsbüro in der Zürcher Altstadt vorbei. «Meine Mutter ist sehr sozial», sagt er. «Ich bewundere, dass sie bereits vor über zehn Jahren erkannt hat, wie wichtig es ist, die Geschichten der Überlebenden festzuhalten. Ich bin stolz auf sie.»
Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Vor fünf Jahren entscheidet sich Joop Caneel, seine Geschichte zu erzählen. «Mein Enkel brachte mich dazu», sagt der 85-Jährige in seinem Zuhause in Kilchberg ZH. Anita Winter besucht ihn an diesem Nachmittag. Caneel wird am Holocaust-Gedenktag eine Rede im Rathaus in Bern halten – vor Botschafterinnen, Diplomaten und der höchsten Schweizerin, Nationalratspräsidentin Maja Riniker.
«Nicht meine Geschichte ist wichtig, aber die ganze Geschichte.» Joop Caneel ist ein Überlebender, der davon Schulklassen immer wieder berichtet.
Joseph KhakshouriAls die Nazis in seine Heimat Holland einmarschierten, gaben Caneels Eltern ihren vierjährigen Sohn ab. Ihr einziger Wunsch: dass er überlebt. Ob sie ihn je wiedersehen würden, wussten sie nicht. Mehrmals entkam Joop Caneel nur knapp dem Tod – doch der Plan ging auf, nach dem Krieg sah er seine Eltern wieder. Später kam er wegen eines Jobs in die Schweiz, wo er die Familie von Winter kennenlernte.
«Anita war damals ein kleines Mädchen. Ich bewundere ihre Arbeit», sagt er.
«Geschichte ist ein Teil des Lebens. Man lebt mit der Vergangenheit, aber für die Zukunft.» Joop Caneel ist einer von rund 40 Überlebenden, die regelmässig vor Schulklassen in der ganzen Schweiz von früher berichten. Anita Winter ist ihnen sehr dankbar für diese Arbeit: «Die Überlebenden erzählen von Erinnerungen, die teilweise kaum in Worte zu fassen sind. Sie zeigen, wohin Antisemitismus führen kann. Sie geben all ihre Kraft, sensibilisieren unermüdlich – und das ehrenamtlich.»
Jetzt erst recht
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind viele Überlebende besorgt, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. «Alle sind sehr gut informiert», sagt Winter. «Viele sagen: Jetzt erst recht! Jetzt müssen wir noch mehr in die Schulen gehen, noch intensiver aufklären.» Die Stiftung werde seit einigen Monaten überrannt von Anfragen von Schulen.
Anita Winter sammelt nicht nur Erinnerungen – sie bewahrt damit auch die Hoffnung, dass diese Stimmen der Zeitzeugen nie verstummen. Denn wer die Vergangenheit bewahrt, schützt die Zukunft.