Wie schläft man in der Schwerelosigkeit? Marco Sieber weiss es: Der 36-Jährige klettert im nachgebauten Modul der Internationalen Raumstation (ISS) in die winzige, fensterlose Schlafkabine, steigt in den Schlafsack, der an der Wand befestigt ist – und schnallt sich fest. «Sonst knallen wir nachts mit dem Kopf in irgendeine Ecke», sagt er lachend.
Letzten Frühling hat der Berner Arzt hier am Astronautenzentrum in Köln seine Grundausbildung bei der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) erfolgreich absolviert – inklusive Überlebenstraining in den Bergen und Schwerelosigkeits-Parcours unter Wasser. Nach dem Waadtländer Claude Nicollier (80) wird Marco Sieber der zweite Schweizer Astronaut sein, der den Weltraum besucht. Ein Kindheitstraum, der in Erfüllung geht – obwohl er damals noch zwischen Astronaut und Dinosaurierforscher schwankte.
Kein Fenster, kein Bett – und doch ein Platz für grosse Träume: So wird Marco Sieber auf der Raumstation ISS schlafen.
Kurt ReichenbachMarco Sieber, warum ist doch nichts aus den Dinos geworden?
Irgendwann wurde mir klar: Die sind ja alle tot! Und plötzlich fand ich es nicht mehr so spannend (lacht).
Sie haben sich gegen 22'500 Mitbewerber durchgesetzt. Wie haben Sie das geschafft?
Das habe ich mich auch schon gefragt! Ich denke, die ESA suchte Allrounder mit vielseitigen Erfahrungen. Ich war Notfallmediziner, Gleitschirmflieger, Taucher, Fallschirmaufklärer bei der Armee und hatte Auslandeinsätze hinter mir, im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos und im Kosovo. Das spielte sicher alles eine Rolle. Aber auch soziale Kompetenz. Man muss mit anderen klarkommen, sich auch mal in eine Bar setzen und ein Bier trinken können. Ich hatte wohl auch das Glück, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Die letzte Bewerbungsrunde war 2008 – seither hat es keine mehr gegeben.
Warum sind gerade Ärzte geeignet fürs All?
Es gibt viele wissenschaftliche Experimente – da hilft ein medizinischer oder naturwissenschaftlicher Hintergrund enorm. Und im Notfall ist es praktisch, einen Mediziner auf der ISS zu haben. Es gibt zwar die Möglichkeit, relativ schnell jemanden zu evakuieren, in sechs bis acht Stunden bestenfalls, aber dann muss die ganze Mission abgebrochen werden.
Verdienen Sie mehr als Arzt oder als Astronaut?
Ich verdiene etwa so viel wie vorher als Assistenzarzt in der Schweiz.
Wie sieht Ihr Alltag hier in Köln am Astronautenzentrum aus?
Jeder Tag ist anders. Mal sitzen wir im Büro, mal gibts Simulationen, Flugstunden, Überlebenstraining. Im September steht ein mehrtägiges Höhlentraining mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt an. Momentan haben wir medizinische Untersuchungen – heute Nachmittag muss ich deshalb zum Zahnarzt.
Wie leben Sie in Köln?
Ich habe eine kleine Wohnung und mag die Stadt sehr gern. Es gibt viele gute Restaurants und tolle Bars. Die Leute sind freundlich, und der Karneval in Köln ist natürlich auch sehr lustig, ich war letztes Jahr da.
Als Astronaut?
Nein (lacht). Aber wir haben Selfies gemacht mit den Leuten, die als Astronauten verkleidet waren. Ich war eine Würfelqualle – weil es einfach war, das Kostüm aus einer Kartonschachtel zu basteln.
Astronauten-Pionier Claude Nicollier hat Ihnen bei der Bewerbung geholfen. Welche Tipps hat er Ihnen gegeben?
Ich habe ihm damals einfach ein Mail geschrieben und erhielt eine lange, freundliche Antwort. Damit hatte ich gar nicht gerechnet! Heute haben wir regelmässig Kontakt. Sein wichtigster Rat: Astronauten müssen stets eine positive Botschaft vermitteln, auch in Zeiten, in denen auf der Erde nicht alles gut läuft. Und er riet mir, nie meine Freunde und meine Familie zu vernachlässigen – weil das mit diesem Job schnell passieren kann.
Sie haben ihn einst als Volkshelden bezeichnet. Sind Sie jetzt selbst einer?
So habe ich das nie betrachtet. Claude ist nicht nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt hoch angesehen. Als ich bei der Nasa in Houston war, kannte ihn jeder! Denn er hatte ja vier Missionen mit dem Space Shuttle. Da spüre ich natürlich schon einen gewissen Druck. Ich hoffe, eine ebenso erfolgreiche Karriere hinzulegen.
Im Foyer der ESA hängen Fotos der Astronauten, die im All waren. Irgendwann wird auch ein Bild von Marco Sieber neben dem seines Vorbilds Claude Nicollier prangen.
Kurt ReichenbachMarco Sieber ist als ältestes von drei Geschwistern in Kirchberg BE aufgewachsen. «Es war eine schöne Kindheit», sagt er. Sein Bruder, seine Schwester und seine Eltern hält er bewusst aus der Öffentlichkeit raus. «Mein Beruf bringt so viel mediale Aufmerksamkeit mit sich, aber meine Familie hat sich diesen Weg nicht ausgesucht.» Zurückhaltend ist er auch in Bezug auf seine Ehefrau und seinen Sohn. Mit ihnen lebt er inzwischen in der Innerschweiz.
Ist Ihr Beruf vereinbar mit einer Familie?
Es ist eine Herausforderung. Aber viele Kolleginnen und Kollegen haben Kinder. Ich versuche trotz dem faszinierenden Job, für meine Familie da zu sein und, sooft es geht, in die Schweiz zu reisen. Oder meine Liebsten mitzunehmen, je nachdem, wo das Training stattfindet.
Wie funktioniert das konkret?
Wenn ich einer Mission zugeteilt werde, beginnt das spezifische Training – dann bin ich mehrere Monate in Houston, Texas. Dann kann meine Familie mitkommen. Die ESA unterstützt uns dabei sehr: mit der Wohnungssuche, Flügen, dem Umzug – das ist gut organisiert.
Für Ihre Partnerin ist es wahrscheinlich nicht einfach, alles zurückzulassen?
Das ist sicher ein Nachteil in diesem Job. Aber es ist ja nicht für immer. Diese intensive Phase dauert ein paar Jahre – wie es danach weitergeht, wird sich zeigen. Da bringt es nichts, sich heute schon Sorgen zu machen.
Bis 2030 soll Marco Sieber zur Internationalen Raumstation aufbrechen – sechs Monate in der Schwerelosigkeit. In 420 Kilometern Höhe zieht die ISS ihre Bahnen, umkreist die Erde alle 90 Minuten – 16-mal am Tag. Schlaf und Zeit verlieren ihren Takt. Nur die Geräuschkulisse ist ein ständiger Begleiter: Das Surren von Ventilatoren, das Summen der Lebenserhaltungssysteme sind die stete Erinnerung daran, dass Technik sein Überleben sichert.
Der Alltag kennt kein Oben, kein Unten. Alles ist verankert, beschriftet, organisiert. Zähneputzen wird zur Choreografie, Duschen ersetzt durch feuchte Tücher. Gegessen wird fast wie auf der Erde – nur vakuumverpackt oder gefriergetrocknet. Jeder Astronaut darf sogar sein Lieblingsgericht mitbringen – ein Hauch Heimat.
Im nachgebauten Columbus-Modul der Raumstation ISS in Köln üben Astronauten den Alltag im All – einziger Unterschied: die Erdanziehung.
Kurt ReichenbachWissen Sie schon, welches Gericht Sie ins All mitnehmen?
Vielleicht Fondue! Aber da müsste man sicher noch schauen, wie das genau funktioniert in Schwerelosigkeit.
Haben Sie keine Angst, dass Ihnen oben langweilig wird?
Nein, eigentlich nicht. Ich werde intensiv arbeiten, forschen und lernen – da bleibt keine Zeit für Langeweile. Die sechs Monate vergehen sicher schneller, als man denkt.
Was genau werden Sie auf der ISS machen?
Ganz konkret weiss ich das noch nicht. Aber generell ist die Aufgabe von Astronauten sehr viel Wissenschaft. Wir machen viele Experimente, die Universitäten oder die Industrie hochschicken. Wir führen die Versuche in Materialwissenschaften, Medizin oder Physik gemäss detaillierten Anweisungen durch und senden die Ergebnisse zur Erde. Ein anderer grosser Teil ist der Unterhalt. Es gibt immer wieder Dinge, die kaputtgehen oder die wir warten müssen, Kühlleitungen ersetzen oder Lampen reparieren. Und dann auch viel PR oder Videos für die Bildung. Wir geben Interviews und führen Gespräche mit Leuten aus Politik und Wirtschaft.
Wie bleiben Sie oben fit?
Sport ist essenziell. Wir trainieren täglich zwei Stunden. Es gibt ein Fahrrad ohne Sattel, ein Laufband mit Gummizügen, die den Körper nach unten ziehen, und ein Gewichthebegerät mit hydraulischem Widerstand. Ohne Schwerkraft dehnen sich die Bandscheiben aus, und man kann bis zu sechs Zentimeter wachsen. Zurück auf der Erde, schrumpft man wieder, was Rückenschmerzen verursachen kann.
Wie sieht die Freizeit im All aus?
Der Arbeitstag beginnt um 7.30 Uhr und endet gegen 19 Uhr. Danach hat man Zeit für sich, um zu essen oder aus dem Fenster zu schauen. Am Samstagvormittag haben wir eine Reinigungsschicht – alles muss geputzt und desinfiziert werden. Der Sonntag ist in der Regel frei. Viele machen Fotos oder telefonieren mit der Familie.
Und sonst so?
Wir haben Kartenspiele und sogar eine Kiste mit Kostümen – für besondere Anlässe oder einfach, wenn man mal rumalbern will. Auch das gehört dazu.
Auf dem Trainingsgelände in Köln lernen Sieber und seine vier Klassenkameraden, wie sie die ISS reparieren können.
Kurt ReichenbachDie Raumfahrt wird zunehmend kommerzialisiert – etwa mit Missionen von SpaceX, der Firma von Elon Musk. Was halten Sie davon?
Das ist ein spannendes Thema. Die Nasa hat Verträge mit SpaceX und Boeing abgeschlossen, um den Transport zur ISS sicherzustellen. Die zunehmende Kommerzialisierung hat zwei Seiten. Einerseits ist der Wettbewerb ein Treiber für Innovation: Technologien entwickeln sich schneller, und die Kosten sinken. Andererseits müssen wir aufpassen, dass der Weltraum nicht zu einem rechtsfreien Raum wird. Gerade mit Blick auf das Thema Weltraumschrott ist es zentral, internationale Regeln zu schaffen – und sich auch daran zu halten.
Sollte man nicht zuerst die Probleme auf der Erde lösen, bevor man neue im All schafft?
Für mich ist Raumfahrt immer auch eine Investition in unser Leben hier unten. Viele wissenschaftliche Experimente auf der ISS haben direkte Auswirkungen auf die Medizin, etwa beim besseren Verständnis des Körpers oder bei der Entwicklung neuer Therapien. Und vieles, was wir heute als selbstverständlich betrachten – Internet, GPS, Wettervorhersagen –, wäre ohne Raumfahrt kaum denkbar. Die Raumfahrt verbessert also auch unser Leben hier auf der Erde.
Gibt es Chancen auf eine zweite Mission?
Das ist schwer zu sagen. Bisher sind die meisten ESA-Astronauten zweimal geflogen. Vielleicht gibt es für einige sogar eine dritte Mission, zum Beispiel mit Artemis-Flügen zum Mond. Die ISS wird noch bis 2030 betrieben, danach könnten neue Raumstationen entstehen.
Träumen Sie davon, auf dem Mond zu stehen?
Ja, danach lecken sich natürlich alle Astronauten die Finger. Aber momentan konzentriere ich mich auf meine ISS-Mission. Der Mond ist für mich noch weit entfernt, aber wer weiss, was die Zukunft bringt?