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Filmemacherin Susanna Fanzun widmet Giacomettis Kinofilm

Auf den Spuren der Giacomettis

Alberto Giacometti ist einer der wichtigsten Schweizer Künstler der Gegenwart. Filmemacherin Susanna Fanzun widmet seiner ganzen Familie einen Kinofilm. Die wichtigste Rolle spielt darin das Tal, das diesen grossen Künstler geprägt hat: das Bergell.

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Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Familienfoto im Atelier der Giacomettis in Stampa GR: Giovanni und Annetta mit Alberto (vorne) und Ottilia sowie Diego und Bruno (hinten v. l.).

Remo Buess

Mitte Oktober schenkt die Sonne dem Dörfchen Stampa am Talgrund des Bergells noch ein paar letzte Strahlen, bevor die dunkle Jahreszeit beginnt. Zwischen November und Mai liegt das Südbündner Bergtal am Fuss des Malojapasses, tief eingeschnitten zwischen Rätischen und Bergeller Alpen, mehrheitlich im Schatten. «Ein Bergeller erzählte mir, dass Gott eines Winters dieses dunkle Tal betrachtete und dem Volk aus Mitleid etwas Schönes schenkte: die Giacomettis», erzählt Susanna Fanzun (60) lachend.

Auch wenn sie nicht aus dem Bergell stammt, sondern aus dessen Nachbartal, dem Engadin, interessiert sich die Filmemacherin früh für die Künstlerfamilie, deren wichtigster Vertreter, Alberto, bis 2019 unsere Hunderternote ziert. Susannas Faszination beginnt mit einem Engadiner Märchenbuch, welches illustriert ist mit Zeichnungen von Albertos Vater, Giovanni Giacometti. Je länger sie sich mit dessen Geschichte befasst, desto mehr begeistert sie sich für die gesamte Familie: Giovanni, seine Frau Annetta und die Kinder Alberto, Diego, Ottilia und Bruno – welche alle künstlerisch höchst begabt sind.

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Susanna Fanzun unterwegs in Borgonovo. Hier wurden Giovanni, Alberto und Diego Giacometti geboren, Annetta, Ottilia und Bruno in Stampa.

Remo Buess

Der Traum, einen Film über die Giacomettis zu drehen, ist schon lange in Susanna Fanzuns Kopf. 2013 beginnt sie damit, ohne richtig zu wissen, wohin die Reise geht. Wo sie anfängt, ist hingegen so klar wie im Sommer das Wasser der Maira, des Flüsschens, das durchs Tal fliesst: hier im Bergell.

Die Oktobersonne taucht das Atelier der Giacomettis im Kern von Stampa in ein diffuses Licht. Der Raum direkt neben dem ehemaligen Wohnhaus der Familie gehört heute zum Museo Ciäsa Granda. Hier prangt in einer Ecke die Lampe, die einst über dem Stubentisch hing, wo die Familie zusammenkam. Giovanni und Alberto haben sie in unzähligen ihrer Gemälde verewigt. Die bevorzugten Motive des Post-Impressionisten Giovanni Giacometti zeigen, wie sehr ihn seine Herkunft geprägt hat: die Berge, das Tal, das eigene Wohnzimmer, die Familie. «Ich träume jede Nacht vom Bergell», schreibt der junge Giovanni in Briefen an seine Eltern, als er in München Kunst studiert.

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Das Buch mit Engadiner Märchen, illustriert von Giovanni Giacometti, liebte Susanna Fanzun als Kind.

Remo Buess

Im Jahr 1900 heiratet er seine Frau Annetta, ebenfalls Bergellerin, die Kinder kommen in rascher Folge: 1901 Alberto, 1902 Diego, 1904 Ottilia, 1907 Bruno. Kunst, Familie und Heimat sind für Giovanni Giacometti untrennbar verbunden, keines ist wichtiger als das andere. Ein Giovanni Giacometti hängt heute in fast jedem Schweizer Museum. (Preise bei Versteigerungen liegen bei bis zu drei Millionen Franken). Viele Werke zeigen seine Kinder, die er immer gefördert und unterstützt hat. Allen voran Alberto.

Getratsche im Dorf

Die Tür zum Atelier fliegt auf, ein Sonnenstrahl fällt auf eine Staffelei. Im Türrahmen erscheint eine zarte Person, die Susanna Fanzun sogleich um den Hals fällt. Nelda Moggi-Negrini (78) kennt diesen Ort seit frühester Kindheit. «Hier habe ich jeweils gesessen», sprudelt es aus ihr heraus, und sie zeigt auf einen Stuhl neben dunklen Verfärbungen am Boden. Nelda, damals zarte 18 Jahre alt, ist eine der Letzten, die für Alberto Giacometti Modell sitzen.

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Die Filmemacherin in ihrer Stube zu Hause in Scuol, wo sie oft arbeitet.

Remo Buess

Ein Ölbild von ihr ist heute im Besitz des Kunsthauses Zürich. «Alberto hat beim Zeichnen geraucht wie ein Schlot», erzählt sie und deutet auf die dunklen Flecken am Boden. «Ich auch. Aber ich habe einen Aschenbecher benutzt.» Alberto ist der Götti von Neldas Bruder. Als sie beginnt, für ihn zu «modeln», tratscht das ganze Dorf. Nicht von ungefähr, schliesslich ist Alberto Giacometti nicht nur für seine Ausflüge ins Rotlichtmilieu seines Wohnorts Paris bekannt, sondern auch für seine knapp 40 Jahre jüngere Geliebte, die er jahrelang neben seiner Ehefrau Annetta hat. «Unser Verhältnis war ein anderes», sagt Nelda. «Ich habe früh meinen Vater verloren, und Alberto wurde für mich je länger, je mehr zur Vaterfigur.»

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Im Film kommt Giacomo Dolfi zu Wort, Alberto Giacomettis Göttibub. Seine Mutter war dessen Cousine.

Remo Buess

Nelda Moggi-Negrini ist eine der wichtigsten Zeitzeuginnen, die in Susanna Fanzuns Film zu Wort kommen. «Das Vertrauen, das mir Freunde und Bekannte der Giacomettis geschenkt haben, rührt mich sehr», sagt die Regisseurin. Einen der wenigen Vertreter der Familie, die bereit sind, sich vor der Kamera zu äussern, findet Susanna in ihrem Wohnort Scuol. «Ausgerechnet mein ehemaliger Schulzahnarzt!», sagt sie lachend.

Giacomo Dolfis Mutter ist eine Cousine von Alberto Giacometti, der 80-Jährige selbst Albertos Göttibub. Susanna Fanzun trifft ihn heute auf einen Kaffee, bevor sie ins Bergell fährt. Giacomo ist als Bub häufig bei seinen Verwandten, hat unzählige Anekdoten auf Lager. «Eines Tages rief mich Götti Alberto ins Atelier und sagte, ich könne mir irgendeines seiner Werke aussuchen», erzählt er. «Ich war damals sieben oder acht Jahre alt und starrte so lange auf die Schoggitafel, die auf einem Regal lag, bis er mir diese schenkte.»

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Fast wie früher: 60 Jahre ist es her, seit Nelda Moggi-Negrini, damals 18, hier im Atelier für Alberto Giacometti Modell sass.

Remo Buess

Aus heutiger Sicht hat er in diesem Moment wohl auf Millionen verzichtet – wenn man bedenkt, dass die teuerste je versteigerte Alberto-Giacometti-Skulptur für gut 141 Millionen Franken den Besitzer wechselte. «Es ist ja nicht so, dass ich keine Werke meiner Familie hätte», sagt Giacomo Dolfi. «Aber ich würde niemals eins davon verkaufen. Da sind Räume und Leute drauf, die ich kannte. Von Menschen geschaffen, die ich liebte.» Seinen Götti beschreibt er als «wortkarg wie alle Bergeller. Und er ist immer einer von uns geblieben. Wenn er hier war, waren seine Kunst oder die Preise, die sie erzielte, nie ein Thema.»

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Albertos charakteristische, in die länge gezogenen Figuren, an der Atelierwand.

Remo Buess

Am späteren Nachmittag, als die Sonne nicht mehr so hoch am Himmel steht, ist die Melancholie, die sich bei ihrem Untergang breitmachen wird, bereits spürbar. An diesem Abend wird «I Giacometti» in Stampa den Bergellerinnen und Bergellern als Vorpremiere gezeigt. Um die Nervosität etwas in den Griff zu bekommen, sucht Susanna Fanzun einen Ort auf, den sie in den vergangenen zehn Jahren immer wieder besucht hat: den Friedhof von Stampas Nachbarort Borgonovo. «Hier liegen sie alle», sagt Susanna.

Giovanni ruht im gleichen Grab wie seine Frau Annetta, welche nach seinem Tod die Familie zusammenhält und von ihrem Mann und ihren Söhnen wohl hundertfach gezeichnet, gemalt und modelliert wird. Der Versuch, Albertos Grab mit einer seiner berühmten Skulpturen zu schmücken, scheitert diverse Male – sie werden immer wieder geklaut. Direkt neben Alberto ruht Diego, der Zweitälteste. Künstlerisch ebenfalls begabt, steht er immer im Schatten seines Bruders. «Ich glaube nicht, dass ihn das gestört hat. Im Gegenteil», sagt Albertos Göttibub Giacomo Dolfi.

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Gipsabgüsse seiner Skulpturen soll Giacometti oft so lange bearbeitet haben, bis kaum etwas übrig blieb.

Remo Buess

Diego und Alberto sind eng verbunden, leben und arbeiten gemeinsam in Paris. Diego ist bis zu Albertos Tod im Jahr 1966 sein Assistent – und sein bevorzugtes Modell. Diegos Stern als eigenständiger Künstler geht nach dem Tod seines Bruders auf. Sein wichtigstes Werk ist die Inneneinrichtung des Picasso-Museums in Paris. Dessen Eröffnung im September 1985 erlebt Diego Giacometti allerdings nicht mehr. Er stirbt zwei Monate vorher.

Das Drama der Ottilia Giacometti

Wie in Zeitlupe gleiten die letzten Sonnenstrahlen des Tages in Borgonovo über die Friedhofsmauer. Susanna Fanzuns Schatten zieht sich in die Länge und sieht fast aus wie eine der berühmten Skulpturen Alberto Giacomettis. Der dramatische Anblick passt zum Grab, vor dem die Filmemacherin steht. Als einzige Tochter der Familie hat Ottilia Berthoud-Giacometti nie die Chance, ihr künstlerisches Talent der Welt zugänglich zu machen. Sie heiratet einen Genfer Arzt und wird schwanger. Sechs Stunden nach der Geburt ihres Sohnes Silvio stirbt Ottilia an einem Herzinfarkt. Silvio Berthoud, der einzige Enkel von Giovanni und Annetta Giacometti, erliegt mit 54 dem gleichen Schicksal wie seine Mutter. Er hinterlässt drei Kinder aus erster Ehe, die alle anonym bleiben möchten. Seine zweite Ehefrau verwaltet heute den Familiennachlass der Giacomettis.

«Sie möchte nicht in Erscheinung treten, hat mir für den Film aber Zugang zu sehr viel Material wie Familienfotos oder Briefen ermöglicht», sagt Susanna Fanzun. Im gleichen Grab wie die Eltern liegt der jüngste Sohn, Bruno Giacometti. Der Architekt lebt bis zu seinem Tod mit 105 Jahren in Zürich. Er ist zum Beispiel am Bau des Hallenstadions beteiligt und entwirft den Schweizer Pavillon der Biennale Venedig 1951/52. Und baut immer wieder im Bergell, zum Beispiel das Schulhaus von Stampa. Dies, obwohl ihm Giacomo Dolfi, sein Neffe zweiten Grades, nicht den engen Bezug zur Heimat zuschreibt, den seine Geschwister haben. «Er war mir kaum bekannt. Ausser zu geschäftlichen Zwecken war er selten im Bergell.» Trotzdem ruhen auch Bruno Giacomettis sterbliche Überreste jetzt hier, wo alles begann.

Susanna Fanzun Filmemacherin auf den Spuren von Giacometti

Susanna Fanzun am Grab von Ottilia Berthoud-Giacometti und deren Sohn Silvio. Die ganze Familie ruht auf dem Friedhof Borgonovo.

Remo Buess

Hier, wo die Sonne noch einen letzten Strahl zwischen den Berggipfeln durchschickt. Hier, wo sich Regisseurin Susanna Fanzun mit leicht flauem Gefühl im Magen auf den Weg macht, den Einheimischen erstmals die gesamte Familiengeschichte «ihrer» Giacomettis zu zeigen. Diesem wortkargen, kritischen Volk, das so viel Zeit im Schatten der mächtigen Dreitausender vor seiner Nase verbringt. «Ein älterer Herr sagte mir, er habe gezweifelt, dass bei einem Film über die ganze Familie Giacometti was Rechtes herauskomme. Aber mir sei es tatsächlich gelungen», schreibt Susanna Fanzun nach der Vorführung in einer Whatsapp-Nachricht. Da geht doch für die Filmemacherin gleich die Sonne auf – und dies mitten in einer Bergeller Oktobernacht.

Familienbloggerin Sandra C.
Sandra CasaliniMehr erfahren
Von Sandra Casalini am 21. Oktober 2023 - 18:00 Uhr