Die Beine tun weh. Die Lunge brennt. Und eine Mischung aus eingetrocknetem Dreck und Salz zieht sich von den Unterschenkeln bis hinauf ins Gesicht. Die ehemalige Kunstturnerin Ariella Kaeslin, 32, und ihr Freund und Teampartner Oliver Friedrich, 33, haben den vierten und zweitletzten Teil des Mountainbike-Etappenrennens Swiss Epic geschafft.
Nach über sechs Stunden im Sattel von Arosa nach Davos erholen sich die beiden bei Nachmittagshitze, Penne mit Tomatensauce und einem Cappuccino im Zielgelände. «Es war richtig hart. Ich habe unterwegs mehrmals gedacht, dass ichs nicht schaffe», sagt Kaeslin. «Aber ausgesprochen hast dus nie!», sagt Friedrich. «Stimmt. Ich habe einfach einige Minuten locker weiterpedalt, bis es wieder ging.»
Leiden, kämpfen, aufstehen, weitergehen. Diese Dinge ziehen sich durch Ariella Kaeslins Leben wie ein roter Faden. Als Kunstturnerin lernt sie Disziplin und Leidensvermögen. Fähigkeiten, die ihr auch heute nützen. Die Sportwissenschaftlerin und Physiostudentin bleibt nach ihrem Rücktritt 2011 stets sportlich ambitioniert: Zuerst rudert sie, dann absolviert sie Triathlon-Wettkämpfe, macht Crossfit und bestreitet Langlaufrennen.
Auch Kaeslins Freund, Sport- und Englischlehrer am Gymnasium Sargans, ist polysportiv begabt. Bewegung verbindet die beiden. Nicht überraschend, dass sie ein Sportevent zusammenbringt. Am Engadin Skimarathon 2017 fällt Ariella frühmorgens im Gerangel im Startgelände hin, direkt einem jungen Mann vor die Füsse.
Dieser hilft ihr auf, gibt ihr unterwegs für einige Kilometer Windschatten – und im Ziel seine Telefonnummer. Es funkt sofort. Wenige Monate später sind sie ein Paar. Mittlerweile wohnen der Rheintaler und die Luzernerin in Buchs SG und haben schon etliche Ausdauerwettkämpfe wie etwa den Gigathlon oder den Wasalauf zusammen gemeistert.
«Ein gemeinsames Ziel haben, gemeinsam kämpfen – das schweisst zusammen», sagt Friedrich. Kaeslin stimmt zu: «Wir lernen uns bei solchen Grenzerfahrungen nochmals von einer anderen Seite kennen.»
Am Swiss Epic starten Profis und Amateure, Frauen-, Männer- und Mixed-Teams zu zweit. Beide Teampartner absolvieren die gesamte Strecke und dürfen sich nicht weiter als zwei Minuten voneinander entfernen. Für Kaeslin und Friedrich eine Premiere. Und punkto Ausdauer, aber auch in Bezug auf Kommunikation und Teamwork eine Herausforderung.
«Mich nervt es jeweils, wenn er mir davonfährt», sagt Kaeslin, die zwar konditionell topfit ist, aber in den technischen Abfahrten eher vorsichtig. «Sie muss halt besser kommunizieren», sagt er, «ich kann nicht stets nach hinten schauen.»
Der nächste Morgen, die letzte Etappe. Kaeslin fühlt sich «wie vom Traktor überfahren». Der Rücken ist verspannt, die Beine sind tonnenschwer. «Es geht jeweils einige Stunden, bis der Motor wieder anläuft.» Bis dahin hilft die Routine der vergangenen Tage: im Hotel frühstücken – Müesli, Eier, Honigbrot – und die Verpflegung packen, vorwiegend Flüssignahrung. Auf dem Renngelände das Velo aufpumpen, die Kette ölen. An der Startlinie noch kurz den Helm richten. Dann ein letzter Kuss, und los gehts!
Der Startschuss ertönt, begleitet vom Refrain des Liedes «Don’t Stop Believin’» von Journey. Der in der Ausdauerszene bekannte Speaker Paul Kaye, der live aus seiner Heimat Südafrika zugeschaltet ist, schickt die Starter mit dem Satz «Be happy out there» auf die Fahrt.
Ob Kaeslin diesen Spruch wahrnimmt oder nicht – verinnerlicht hat sie diese Einstellung sowieso. Sie hat aus ihrer Vergangenheit gelernt. Während der Karriere litt sie unter grossem Druck sowie der psychischen Misshandlung eines Trainers und nach dem Rücktritt an Depressionen. Über diese Erfahrungen spricht sie offen. Damit will sie ein Tabu brechen und andere Sportler vor denselben Fehlern bewahren.
Gleichzeitig muss sie auf sich selber achten. «Wenn ich mir wieder zu viel zumute, bekomme ich geschwollene Drüsen, fühle mich fiebrig und kann nicht mehr abschalten.» Deshalb hat sie fürs Swiss Epic bewusst nicht nach Plan trainiert, noch hat sie ein Zeit- oder Rangziel. «Wir wollen Spass haben und herausfinden, zu was unser Körper fähig ist.»
Nach drei Stunden erreicht das Team Kaeslin-Friedrich die Zwischenstation Grüeni ob Davos. «Erst die Hälfte! Ich bin am Ende!», seufzt Kaeslin auf den letzten Metern des Aufstiegs. Dann drückt sie sich am Verpflegungstisch gleich vier Kohlenhydratgels hintereinander in den Mund. Während ihr Freund ihr Vorderrad aufpumpt, scherzt sie bereits wieder mit den Helfern.
Das Wetter ist so unbeständig wie ihre Gefühlslage. Nach warmen Sonnenstunden ziehen dunkle Wolken auf, es blitzt und donnert. Kurz darauf regnet es in Strömen. Auf der letzten Abfahrt zittern Kaeslin und Friedrich richtig vor Kälte.
Endlich am Ziel. Nach insgesamt 28:06:55 Stunden über die fünf Tage fahren Ariella und Oliver Hand in Hand über die Ziellinie im Kurpark Davos. «Dancing Queen» von Abba dröhnt aus den Boxen. Zum Tanzen ist ihnen gerade nicht zumute. Zu schwer sind die Beine. Dafür fallen sie sich erschöpft in die Arme.
«Es war unglaublich hart, aber unglaublich gut», sind sich beide einig. «Unterwegs dachte ich: So etwas mache ich nie mehr», sagt Kaeslin. Friedrich lacht. Er ahnt wohl schon: Spätestens, wenn die warme Dusche den Dreck von ihren Beinen spült, ändert sie ihre Meinung wieder.