Kurz geschrieben hat Klaus Merz (78) seit je. Am Lehrerseminar Wettingen AG, das der Schriftsteller einst absolvierte, sorgte dies für Diskussionen mit seinem Deutschlehrer. «Zu kurz», notierte der jeweils unter Merz’ Aufsätze. Letztlich liess er seinen Schüler jedoch machen.
Während Klaus Merz die Hinweise seines Dozenten ignorierte, hatte sein Vater dagegen Jahre zuvor den Rat einer Lehrerin seines Sohnes beherzigt. Als Kind eines Mittelständlers, wie es Merz’ Vater als Bäckermeister im aargauischen Menziken war, wäre dessen Ältester für eine Banklehre vorgesehen gewesen. Warum es anders gekommen ist, daran erinnert sich Merz mit lebhaften Worten und einem ungetrübten Bild vor Augen. Eine Lehrperson spielt dabei – wie später auch am Lehrerseminar – eine wichtige Rolle. Sie hatte den jungen Gymnasiasten schon in der Bezirksschule unter ihre Fittiche genommen – und war von dessen Aufsätzen angetan.
«Die Lehrerin kam alle drei Tage in unsere Bäckerei, um ein Pfünderli Ruchbrot zu kaufen. Sie sah aus wie Goethe, trug allerdings einen breitrandigen Sommerhut und stets ein blaues Kleid – im Sommer aus sehr feinem Stoff, des winters aus Wolle. Eine eigenständige, eigensinnige Frau. Eines Tages sagte sie zu meinem Vater: ‹Herr Merz, es drängt mich, Ihnen das mitzuteilen. Ihr Sohn sollte ins Lehrerseminar. Lassen Sie ihn nicht auf die Bank, sondern auf die Schulbank!›» Den Fingerzeig nahm sein Vater ernst. «Er wäre seinerzeit lieber Flugzeugmechaniker geworden, übernahm stattdessen die elterliche Bäckerei.»
Seelenbrot statt Ruchbrot
Merz sieht durchaus Parallelen zwischen seiner Berufung zum Schriftsteller und dem Beruf seines Vaters als Bäcker. «Ich mache keine Pralinés. Ich möchte Seelenbrot backen, das nährt.» So wie pappsüsse Pralinés mehr Zutaten benötigen als ein nahrhaftes Brot, schreibt Merz Texte, die trotz wenigen Worten kraftvoll daherkommen.
Jetzt wird der Seelenbrotbäcker und ausgebildete Sekundarschullehrer mit dem Grand Prix Literatur geehrt. Es ist die höchste literarische Auszeichnung der Schweiz überhaupt. Mit Klaus Merz werde «eine eher leise, jedoch umso eindringlichere und gewichtige Stimme ausgezeichnet, die einen Echoraum weit über die Schweizer Grenzen hinaus findet», würdigt das Bundesamt für Kultur das Lebenswerk des Aargauers. Für ihn selbst sei der mit 40'000 Franken dotierte Preis «wie ein schöner Hut» über all den Preisen, die er bereits im deutschsprachigen Raum erhielt.
Eine Augenbraue als Fingerzeig
Seinen internationalen Durchbruch als Schriftsteller hatte Merz 1997 mit «Jakob schläft. Eigentlich ein Roman». In dem gerade einmal 80 Seiten umfassenden Werk lässt er das mittlere Kind einer Bäckersfamilie von den Kindheits- und Jugendtagen erzählen: vom Vater, der an Epilepsie leidet, der schwermütigen Mutter, dem älteren Bruder, der tot geboren wird, und dem jüngeren, der mit einem Wasserkopf zur Welt kommt. Es ist Merz’ eigene Familiengeschichte. Knapp und klar zu Papier gebracht.
«Ich schreibe skrupulös», sagt Merz über den eigenen Stil. Der «Duden» definiert dies mit «peinlich genau». Seine Texte lässt der Schriftsteller wann immer möglich etwas liegen, ehe er sich ihnen aufs Neue widmet. Liest Ehefrau Selma, eine ehemalige Psychotherapeutin, seine Zeilen laut vor, achtet er auf den kleinsten Fingerzeig von ihr; dieser könne sich manchmal auch nur in einer ganz leicht hochgezogenen Augenbraue bei ihr zeigen. «Ich arbeite an kurzen Sachen lang» – das ist einer dieser Merz-Sätze, die es auf den Punkt bringen.
Er habe nie schreiben wollen, um davon zu leben, sondern leben, um zu schreiben. Deshalb war Merz auch erschrocken, als er irgendwann doch allein von der Schriftstellerei leben konnte. Nach einer Zeit als Vollzeit-Sekundarlehrer und Rektor in seinem Wohnort Unterkulm unterrichtete er nur noch Teilzeit als Dozent für Sprache und Kultur an der Schweizerischen Bauschule Aarau. «Zuletzt waren das montags noch vier Stunden. Meine Kollegen scherzten deshalb ‹Der kommt nur noch zu uns, damit er weiss, wann die Woche anfängt.›»
Seine geklonte Schreibstube
Dabei ist Schreiben – und insbesondere bei Merz das Kürzen (oder «Ausholzen», wie er es nennt) – keine einfache Arbeit. «Ich kann Worte nicht erzwingen.» Ein enger literarischer Freund, sein Schriftstellerkollege Markus Werner, habe einst die Feststellung getroffen: «Schreiben ist Wartekunde – man müsse dafür des Wartens kundig sein.» Das treffe voll und ganz auch auf ihn zu, sagt Merz.
So gewöhnlich die Schreibstube im Haus des Aargauer Schriftstellers auf den ersten Blick erscheinen mag, genau dieses gewohnt Gewöhnliche ist für ihn wichtig: Der Schreibtisch steht so, dass das Licht von links auf die Schreibhand fällt. «Mein gewohnter Blick geht stets in den Raum hinein, aber links aus dem Fenster behalte ich die Welt im Auge – das ist mein System.» Und dieses System funktioniert für Merz überall. Ob bei vergangenen Auslandsaufenthalten in Paris, London und Berlin oder in Venedig – an Orten, wo er schreibt, sorgt er zuerst für das gewohnt gewöhnliche Umfeld. «Meine Frau und unsere Kinder sagen dann immer: ‹Jetzt hat er wieder sein Zimmer geklont.›»
Merz mag zwar das Gewohnte. Gewöhnlich ist das deshalb für ihn aber nicht. So setzt er etwa bei der Gestaltung seiner Buchcover seit 40 Jahren auf einen Mann: Heinz Egger. Die Kunstwerke des Oberaargauers zieren auch Merz’ Schreibstube – und das sogar als Originale.