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  4. Beste Akkordeonistin der Schweiz: Viviane Chassot spielt nicht Ländler, sondern Klassik und Jazz

Die Klangmagierin

Viviane Chassot ist die beste Akkordeonistin im Land

Sie wächst mit «gewöhnlichen» Handorgelklängen auf und gilt heute als beste Akkordeonistin im Land. Doch Viviane Chassot spielt nicht Ländler, sondern Klassik und Jazz. «Mein Instrument ist ein Chamäleon.»

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Vivanne Chassot, Akkordeonistin

Pionierin und Botschafterin ihres Instruments: Viviane Chassot, 44, im Musiksaal des Stadtcasinos Basel. Sie spielt gern barfuss. «So habe ich Bodenhaftung.»

Kurt Reichenbach
Thomas Kutschera

Der letzte Ton aus dem Akkordeon ist verklungen. Es ist still im Musiksaal des Stadtcasinos Basel – eine ganze Weile lang. Viviane Chassot (44) öffnet die Augen. «Mein Akkordeon und ich sind eine Einheit. Wenn ich mit ihm spiele, drückt es das aus, was ich fühle, was ich sagen will.» Das Klangspektrum ihres Instruments ist riesig: von brummend tief und laut bis gläsern zart und leise. «Auch ich bin kein eintöniger Mensch.»

Tatsächlich entlockt Viviane Chassot dem Ak- kordeon ganz andere Klänge, als es die meisten Handorgel-Musizierenden tun. 2022 erhält sie für ihre CD «Pure Bach» mit Bearbeitungen von Solowerken Johann Sebastian Bachs den Preis Opus Klassik, die weltweit höchste Weihe im Bereich der klassischen Musik. Diese spezielle Paarung des eher volkstümlich konnotierten Instruments mit klassischer und jazziger Musik gründet früh in Chassots Kindheit. An Weihnachten daheim in Wollerau SZ nimmt ihr Vater jeweils die Handorgel hervor, intoniert den «Schneewalzer». Die Musik gefällt ihr nicht, doch das Instrument. «Dessen Ton und die vielen Knöpfe faszinierten mich schon damals.» Viviane leiht sich Vaters Handorgel aus und nimmt Unterricht. Mit zwölf Jahren hört sie ein Stück von J. S. Bach auf dem Akkordeon – das will sie auch! «Zum Glück hatte ich einen Musik- lehrer, der mich Haydn und Bach statt Ländler spielen liess. Die Noten frass ich regelrecht.» An der Hochschule der Künste in Bern schliesst sie ein Studium ab. Sie übt wie besessen.

 

 

Vivanne Chassot, Akkordeonistin

Chassot mit dem 15 Kilo schweren Akkordeon im Roll- koffer vor ihrem Haus in der St. Alban-Vorstadt in Basel.

Kurt Reichenbach

Die Liebe zur Musik erwacht wieder

Doch unter diesem Leistungsanspruch leidet die Freude an der Musik – sie zittert, wenn sie das Instrument nur berührt. Mit 26 lässt sie die Musik Musik sein, liest Hesse und Rilke, wandert, verliebt sich in einen Tonmeister, lebt mit ihm in Leipzig. Immer wieder hört sie Meat Loafs Lied «Alive». Die Liebe zur Musik erwacht wieder. In Leipzig nimmt sie 2009 ihre erste CD auf – mit Klaviersonaten von Joseph Haydn. «Seine Musik hat etwas Bodenständiges und Direktes, auch Humor.» Alfred Brendel, Doyen unter den Pianis- ten, schreibt ihr: «Die Interpretation ist in ihrer Art vollendet. Frische, Kontrolle und Empfindsamkeit wirken auf das Schönste zusammen.»

Vor zehn Jahren zieht Chassot nach Basel. Heute bewohnt sie dort ein Haus in der Altstadt. An der Wand hängt ein Faksimile eines Briefs von Joseph Haydn. Darin beschreibt dieser sein Credo – es ist auch das von Chassot: «Was von Herzen kommt, geht auch zu Herzen.» Sie leitet internationale Meisterklassen, gastiert als Solistin und Kammermusikerin in renommierten Konzerthäusern auf der ganzen Welt, arbeitet mit Dirigenten wie Riccardo Chailly. 2017 nimmt das Label Sony Classical sie als erste Akkordeonistin unter Vertrag. Lange ist sie Exotin in der Welt der klassischen Musik – Tempi passati.

«Bachs Musik ist klar und strukturiert»

Bei Flugreisen bucht Viviane Chassot einen zweiten Sitz – für ihr Akkordeon. Kein Wunder: Ihr Hauptinstrument ist ein Unikat der italienischen Edelmarke Bugari – mehr als 200 Knöpfe, 15 Register, sechs Oktaven Tonumfang, 15 Kilo Gewicht, Preis: 25'000 Franken. Der Korpus stammt aus der Manufaktur in Italien, die Stimmzungen wurden in Russland hergestellt und eingebaut. «Sie sind äusserst fein und reagieren auf kleinste Bewegungen des Blasbalgs, mit dem ich Luft zuführe. So kann ich jeden Ton individuell gestalten.»

Nicht immer sind die Töne in Chassots Leben hell und wohlklingend. Im Sommer 2019 erhält sie die Diagnose Brustkrebs. Ihr Arzt sagt, sie brauche die stärkste Chemotherapie. Chassot weigert sich – denn so könnte sie das Gefühl in ihren Fingerkuppen verlieren. «Meine Finger sind mein Kapital.» Sie unterzieht sich einer schwächeren Chemo. Läuft die Infusion, hält sie ihre Finger in eiskaltes Wasser. Die Therapie ist erfolgreich, ihre Finger nehmen keinen Scha- den. In der Rekonvaleszenz spielt sie viel Musik von Bach. Für einen Facebook-Post davon erhält sie Tausende Likes. «Bachs Musik ist klar und strukturiert. Ihre Kraft gab mir Halt und Zuversicht.»

 

D

 

 

«Erst die Stille, dann der Ton – dieser Übergang ist magisch» Viviane Chassot

Vivanne Chassot, Akkordeonistin

In ihrer Wohnung in Basel lebt Chassot allein. «Ich organisiere alles selber.» Vor einer CD- Einspielung übt sie täglich fünf Stunden – am liebsten nachts.

Kurt Reichenbach

Jamsession mit Stephan Eicher

Die Akkordeonistin erholt sich. Im Sommer 2021 wird sie in Lugano TI mit dem Schweizer Musikpreis geehrt. Auch Stephan Eicher ist dort, er bekommt den Grand Prix Musik. Die beiden spielen zusammen, Eichers «Chanson bleue» und das «Guggisberglied». Monate später, als Chassot mit dem Swiss Orchestra Haydns Klavierkonzert in D-Dur spielt, lässt sie in ihrer Kadenz eine Melodie von Eicher einfliessen. «Klassik, Pop und Volksmusik liegen gar nicht weit auseinander. Mein Akkordeon ist ein Chamäleon.» Als Trauffer-Fan mal mit dem «Alpentainer» zusammen spielen? «Wäre cool!» Auf ihrer aktuellen CD «Folk Flow» verbindet Chassot Klassik mit Jazz und freier Improvisation. Vor Kurzem trat sie am Offbeat Jazzfestival Basel auf, auch mit Tango, – und bekam Standing Ovations. Nach jedem Konzert kommen Leute auf sie zu: «Ihre Musik hat mich sehr berührt.»

Chassot mit dem 15 Kilo schweren Akkordeon im Rollkoffer vor ihrem Haus in der St. Alban-Vorstadt in Basel.

Als Ausgleich zum Bühnenleben fährt die Musikerin einmal wöchentlich ins Bernbiet, packt auf einem Bauernhof an: Hilft beim Füttern und Mis- ten, fährt auch mal Traktor, verbringt Stunden bei den Pferden. «Das erdet mich.» Als sie im Lock- down nicht auftreten darf, macht sie sich viele Gedanken. «Es gab keine Sicherheit, dass der Musikbetrieb überhaupt weitergeht. Und so überlegte ich mir, Theologie zu studieren.» Doch Chassot wechselt den Beruf nicht. Denn sie spürt, dass sie mit ihrem Akkordeon auch in Zukunft das machen kann, was sie als Pfarrerin täte: den Zuhörenden Raum und Zeit geben – zum Atmen und zum Menschsein. «Erst die Stille und dann der Moment, in dem der Ton anfängt – dieser Übergang ist magisch.» Überhaupt die Stille. «Sie ist der Boden von allem.»

Von Thomas Kutschera am 6. Mai 2023 - 12:00 Uhr