«You are Peng», sagen die Engländer, wenn jemand einfach top ist. Livia Peng (23) lächelt: «Ich hatte das noch nie gehört», sagt sie. «Aber alle hier sagen ständig: You’re so peng! Und ich denke mir: Ja, das passt – ich heisse ja wirklich so!» Die Schweizer Nationaltorhüterin lebt seit Anfang August in England, in einer schmucken Zweizimmerwohnung, noch nicht ganz fertig eingerichtet.
Nur ihre grossen Vorbilder, Boxer Muhammad Ali und Tennislegende Roger Federer, zieren ihre Stubenwand und geben einen persönlichen Touch. «Vor allem der Fernseher fehlt! Ich muss doch anständig Fussball schauen können», erzählt die Bündnerin aus Ems. Ihre Wohnung liegt in Leatherhead, einer kleinen, verträumten Stadt 40 Autominuten südlich von London. Dort, wo sie ihre Fussballträume lebt und lernen muss, geduldig zu bleiben.

«Es sind noch nicht alle meine Sachen da», erzählt Peng. Ihre grossen Vorbilder Muhammad Ali und Roger Feder sind aber bereits platziert.
Joseph KhakshouriEin Märchen in Blau
Chelsea – das war immer ihr Traum. «Schon als Kind war ich ein grosser Fan. Die Spieler und Spielerinnen, die blaue Farbe – es hat mich einfach fasziniert», erzählt sie. Im Sommer wurde der Traum wahr: Vierjahresvertrag beim englischen Topklub, ein Team voller Weltstars wie Lucy Bronze (33) oder Lauren James (24) «Ich denke mir manchmal immer noch: Wow, wo bin ich hier gelandet? Jetzt sitze ich in der Kabine mit Spielerinnen, die ich jahrelang im Fernsehen gesehen habe.»

Vor der EM unterschrieb Peng beim Traditionsklub Chelsea und verliess Werder Bremen.
Chelsea FC via Getty ImagesDoch wie jedes Märchen hat auch dieses eine Schattenseite. Denn in London ist sie nicht die Heldin im Rampenlicht, sondern die Nummer zwei – hinter Englands Nationaltorhüterin Hannah Hampton, 24, notabene gerade eben zur besten Torhüterin der Welt an der Ballon-d’Or-Zeremonie ausgezeichnet und EM-Siegerin im Sommer geworden. «Natürlich ist das schwer», sagt Peng ehrlich. «Ich habe mir diesen Schritt aber gut überlegt und wusste, dass ich es machen will.» Noch vor zwei Jahren hätte sie diese Situation kaum ausgehalten. «Früher ist für mich eine Welt zusammengebrochen, wenn ich nicht spielen durfte. Heute kann ich besser damit umgehen. Ich muss es als Chance sehen, von Hannah zu lernen.» Aber es ist eine spezielle Dynamik: Die beiden sind Teamkolleginnen – und gleichzeitig die härtesten Konkurrentinnen. «Ich möchte die Nummer eins werden. Darauf arbeite ich hin.»

Mit Mara Alber (l.) und Maika Hamano (r.) vergnügt sich Peng in einem Park in Leatherhead.
Joseph KhakshouriDas verdiente Debüt
Mitte Oktober kam dann der Moment, auf den sie so lange gewartet hat: ihr Debüt für Chelsea. Peng erbringt im Training so gute Leistungen, dass ihre Trainer sie belohnen möchten – mit ihrem ersten Spieleinsatz. Ausgerechnet in der Champions League. «Ich war so nervös wie noch nie», erzählt sie und lacht. «Nicht mal an der Heim-EM war ich so aufgeregt.» Als die Hymne ertönte, hatte sie Gänsehaut. «Ich stand da und dachte: Wow, das ist mein Traumklub – und ich darf ihn heute verteidigen.» Das Spiel endete 1:1 gegen den niederländischen Klub Twente Enschede. «Ernüchternd, klar», sagt sie. «Aber ich war stolz. Für mich war das ein Riesenschritt. Jetzt bin ich noch hungriger, die Eins zu werden.» Dieser Ehrgeiz kommt nicht von irgendwo.
Vom Underdog zur EM-Heldin
Wenige Monate zuvor hat sie sich vom Underdog zur Heldin einer ganzen Nation gemausert. Kaum jemand hatte sie auf dem Zettel – schliesslich galt Elvira Herzog, 25, als die klare Nummer eins im Schweizer Tor. Doch dann kam alles anders. Peng wurde überraschend von Trainerin Pia Sundhage aufgeboten. Was als Risiko begann, wurde zur Sensation: Peng hielt, flog, rettete – und brachte die Schweiz in den Viertelfinal. Aus der stillen Nummer zwei wurde die Lieblingsfigur der Heim-EM.

Typisch England: Mit Mitspielerinnen und Freundinnen Maika Hamano (l.) und Mara Alber (r.) vergnügt sich Peng beim Fish-and-Chips-Essen im Pub.
Joseph KhakshouriMit jeder Parade wuchs ihr Selbstvertrauen. «Ich wollte einfach mein Ding machen. Plötzlich hat die ganze Schweiz mitgefiebert. Das war unglaublich.» Ihr Lieblingsmoment? Der Schlusspfiff gegen Finnland. «Da ist vieles von uns abgefallen. Wir wussten: Wir stehen im Viertelfinal. Das war ein sehr emotionaler Abend.»
Chelsea hat ihre EM verfolgt. «Sie haben mir noch während des Turniers Nachrichten geschickt, mich gepusht. Das hat mir den Ein- stieg später sehr erleichtert. Ich kam hierher, sie kannten mich aus den Spielen.» Dass sie heute in London spielt, begann einst an einem verschneiten Weihnachtsabend: Da bekam sie mit acht Jahren Torhüterhandschuhe von ihrem Gotti geschenkt. «Ich war überglücklich – ab da war klar, ich will ins Goal.» Mit elf absolvierte sie beim Team Südostschweiz ihre ersten Torwarttrainings. Goalie-Trainer Romano Cabalzar (61) legte dort den Grundstein für ihren Weg in den Spitzenfussball. Über den FC Zürich, BK Häcken und Levante UD führte ihr Weg schliesslich zu Werder Bremen – und von dort weiter zum grossen Chelsea. Wie viel verdient man als Chelsea-Goalie eigentlich? Livia winkt ab und lacht. «Sagen wir so: Ich kann gut davon leben – deutlich besser als früher in Bremen.»

Neben dem Fussball studiert Peng Sportmanagement im dritten Semester. Gerade hat sie ihre Prüfungen durch.
Joseph KhakshouriIm gleichen Boot
In Leatherhead wohnt sie allein, aber im gleichen Block wie ihre zwei Teamkolleginnen Maika Hamano, 21, aus Japan und Mara Alber, 20, aus Deutschland. Am Mittag trifft sie die beiden im Pub für eine Portion Fish and Chips. «Das Essen ist der grösste Kulturschock», sagt Peng, und die drei Frauen lachen und nicken zustimmend. «Also ich vermisse wirklich das Schweizer Essen, Spätzli vor allem.» Die meiste Zeit verbringen sie mit gemeinsamem Kochen und Backen, Fussballschauen, oder sie gehen in die Sauna. Mara Alber erzählt: «Livia und ich haben fast zur selben Zeit bei Chelsea ange- fangen, waren die Neulinge. Das hat uns sofort verbunden.» Und Peng fügt hinzu: «Wir haben alle ein bisschen Heimweh, vermissen unsere Familien. Aber zusammen gehts leichter.»
Solche Momente geben Peng Kraft – für den grossen Traum, der sie nach England geführt hat. «Ich weiss, dass mein Moment kommen wird», sagt sie. «Ich will wieder die Nummer eins sein – bei Chelsea, in der Nati. Aber bis dahin: Ich geniesse jeden Tag, ich lerne, ich wachse. Und werde bereit sein, wenn es so weit ist.» Sie lächelt. In England würde man jetzt darauf antworten: «That’s so peng!» Und zu wem würde das besser passen als zu der Frau, die mit diesem Namen geboren wurde?

