«Ein tiefer Schmerz liegt über unserem Fest. Aber wir schreiten gemeinsam vorwärts. Wie bei der Prozession, die wir gleich begehen werden.» Pfarrer Thomas Pfammatter (60) schaut über den Rand seiner Sonnenbrille. Er blickt auf die Gläubigen, die sich im Schatten des Dorfplatzes von Wiler versammelt haben. Sie stehen auf Balkonen und Treppen, blicken aus offenen Fenstern und schmiegen sich an Hauswände. Sie sehen, wie ihr Seelsorger um Fassung ringt. «Es sind die vertrauten Plätze und Gassen, die fehlen.» Ein Säugling brabbelt. Das Klirren der Kette am Weihrauchgefäss. Ansonsten: hilflose Stille.
«Herrgottstag» in Wiler: Der Dorfplatz als Zentrum der Gemeinschaft – auch in schwierigen Zeiten.
Andrea SoltermannDas Dorf Wiler liegt weniger als fünf Kilometer von Blatten entfernt – zumindest war das so, als es Blatten noch gab. Dann kam der 28. Mai 2025, und mit ihm kamen Berg und Gletscher. Wo einst das Nachbardorf von Wiler war, ist nur mehr eine tote Landschaft aus Geröll, Schlamm und Eis.
Seelsorger in Nöten
Knapp einen Monat nach der Katastrophe feiert das katholische Wallis das «Hochfest des Leibes und Blutes Christi». Fronleichnam, auch Herrgottstag genannt, gilt in den Dörfern des Lötschentals als wichtiges Brauchtum. «Das Fest erinnert uns daran, dass Gott unseren Lebensweg segnet. Er begleitet uns. Fronleichnam ist ein Fest der Hoffnung», sagt Pfammatter.
Seit 2015 kümmert sich der Geistliche um das Seelenheil der Menschen im Lötschental. Er sagt, wie schwer es für ihn war, die diesjährige Feier zu leiten. «Ich kenne die betroffenen Menschen und ertappe mich oft dabei, dass ich den Tränen nahe bin.» Er denke an die jungen Familien aus Blatten, deren Häuser er kürzlich gesegnet habe. Und an die älteren Generationen, die sich ein Leben lang alles aufgebaut hätten, nur um es dann auf einen Schlag zu verlieren. Nach dem Bergsturz sei seine Arbeit als Seelsorger dringlicher geworden. «Oft fand ich keine Worte, spürte meine eigene Trauer.» Und doch hat Pfammatter geholfen. Indem er zuhörte. Mit Gesten, Umarmungen. Mit gemeinsamem Schweigen. Und mit Rat.
Aber manchmal ist auch dem Seelsorger alles zu viel. Dann lenkt er sich ab und tankt Kraft in der Kunst, beim Mountainbiken oder bei seinen Liebsten.
Ergriffen und geschockt: Zum ersten Mal steht Pfarrer Pfammatter auf der Anhöhe, von wo aus das Ausmass der Katastrophe sichtbar ist. Die Armee hat die ersten Aufräumarbeiten begonnen.
Andrea SoltermannBunte Farben statt graues Leid
Auf dem Dorfplatz in Wiler ertönt erst das Halleluja, dann das Vaterunser. Die Menschen feiern ihr Fest der Hoffnung. In den Blechinstrumenten spiegeln sich die beflaggten und mit Blumen geschmückten Fassaden der Holzhäuser. Kelche blitzen im Sonnenschein. Die Musikgesellschaft Alpina spielt den Marsch «Alte Kameraden», ein Tourist wandert vorbei und fotografiert die Szene.
«Achtung, still!» Der Kommandant der Herrgottsgrenadiere hat seinen Säbel gezogen. Die Kompanie nimmt Haltung an, Fahnen werden in die Höhe gehalten. Die silbernen Spitzen am Ende der Fahnenstangen strecken sich trotzig den Bergen entgegen.
Wie auch die Trachten, die hier viele tragen, erzählen die Herrgottsgrenadiere von der Vergangenheit. In Zeiten grosser Not verdingten sich viele Lötschentaler als Söldner in fremden Armeen. Heute marschieren die Grenadiere an hohen kirchlichen Feiertagen auf und präsentieren ihre imposanten Uniformen. Sie gelten als wichtiges Erbe vergangener Zeiten, das Aufmarschieren wird mit Hingabe und Stolz zelebriert.
Pfammatter übergibt das Wort an Enea. Der Jugendliche hat als Abschlussarbeit der Schule kleine Herrgottsgrenadiere gebastelt. «Diese Figur schenke ich Blatten», sagt er. «Heute marschieren wir zur Ehre Gottes und zur Ehre Blattens auf.» Die Menschen applaudieren. Dann bitten sie um Beistand für diejenigen, die keine Heimat mehr haben. Und gedenken dem Mann, der beim Bergsturz sein Leben verloren hat.
Im Gleichschritt durch Wiler: Die Herrgottsgrenadiere erinnern an vergangenes Söldnertum und marschieren an hohen kirchlichen Feiertagen auf.
Andrea SoltermannProzession der Hoffnung
«Gewehre schultern. Abteilung vorwärts marsch!» Unter den Klängen der Trommeln setzt sich die Prozession in Bewegung. Der Pfarrer läuft unter einem Baldachin und trägt die Monstranz, in der sich die heilige Hostie befindet. Fahnenträger, Ehrengarde, Messdiener, die Musikgesellschaft, Herrgottsgrenadiere und Gläubige schliessen sich an. Die Prozession verlässt das Dorf und steuert mehrere Altare an, die auf dem Weg aufgebaut wurden.
Die Strasse schlängelt sich durch Wiesen. Es riecht nach gemähtem Gras. In der Ferne rauscht ein Bach, Grillen zirpen. Dazwischen erklingen die Glöckchen der Messdiener, die Musikgesellschaft hält mit ihren Instrumenten dagegen. Rosenkränze in knochigen Händen, gemurmelte Gebete, das Gemeindewappen flattert im Wind: Die Prozession hat einen weiteren Altar erreicht. Er liegt in unmittelbarer Nähe des Schuttkegels, der einst Blatten war. Ein Zivildienstleistender hält Wache an der gesperrten Strasse, die Gläubigen stimmen einen Lobgesang an. Schliesslich zieht die Prozession weiter. Die Menschen in den hintersten Reihen bleiben stehen, sehen sich das Ausmass der Katastrophe an, zeigen auf das Kleine Nesthorn. Es ist in Staub gehüllt, bewegt sich noch immer.
Trachtenfrauen und Mädchen ganz in Weiss: Die Prozession ist Sinnbild für das gemeinsame Vorwärtsschreiten.
Andrea SoltermannBlatten ist allgegenwärtig
Zurück in Wiler, löst sich die Prozession auf. Ein kleines Mädchen hüpft in ihrem weissen Seidenkleid, als wäre sie eine Ballerina, die soeben einen neuen Tanzschritt gelernt hat. Eine Trachtenfrau rollt eine Fahne ein. Geschulterte Trommeln, Gewehre klemmen unter Armen. In einer Ecke tuscheln zwei Messdiener, daneben posiert ein Junge mit dem Helm eines Herrgottsgrenadiers. Unter der Anleitung der Erwachsenen übt er das Strammstehen. Irgendwo brutzelt etwas in einer Pfanne, es riecht nach Essen.
So auch im gemütlichen Restaurant, in dem sich Einheimische und Touristen mischen. In Gruppen sitzen sie da und unterhalten sich. Das vorherrschende Thema: der Bergsturz von Blatten. Ein Betroffener erzählt von seinem Haus, von dem nur noch das Dach aus dem Wasser ragt. Die Gäste sprechen über eine tonnenschwere Brücke, die einfach weggetragen wurde. Riesige Eisblöcke, die im Tal gelandet sind. Die immense Druckwelle, die alles niederriss, und der Staub, der wie ein Atompilz aussah: Die Katastrophe, die Gewalt der Natur ist allgegenwärtig. Und doch gibt es da auch die alltäglichen Themen, Lachen und Hoffnung. Der Schock ist nicht überwunden, das Leid nicht vergessen. Nur zögerlich hält der neue Alltag Einzug.