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  4. Bundesrat Alain Berset spricht im Interview über AHV-Reform und Widerstand der Frauen

Bundesrat Alain Berset

«Wichtig ist, aus Fehlern zu lernen»

Jetzt oder nie! Bundesrat Alain Berset kämpft zum wiederholten Mal für eine AHV-Revision. Der Sozialminister über den Widerstand der Frauen, den Erfolgsdruck und Rücktrittsforderungen.

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BR Alain Berset, AHV Abstimmungsveranstaltung

Für die AHV-Revision reist Alain Berset durchs ganze Land. Einen Halt macht er in Sempach LU.

Kurt Reichenbach

Kurz vor sieben Uhr ist die Festhalle in Sempach LU fast voll, 500 Menschen sind gekommen. Bundesrat Alain Berset weibelt für die Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die am 25. September an die Urne kommt. «Dieses Mal muss es klappen, sonst wird es eng für Berset», sagt ein junger Mann. «Es ist einmal mehr ein Kampf auf unserem Rücken», findet eine ältere Frau ein paar Reihen weiter hinten. Ihre Freundin fügt hinzu: «Ich bin gespannt, ob Herr Berset uns überzeugen kann. Ich bezweifle es.» 

BR Alain Berset, AHV Abstimmungsveranstaltung

Bundesrat Berset backstage: Der Sozialminister hält in der Festhalle Sempach ein Referat zur AHV-Revision. 

Kurt Reichenbach

Alle klatschen, als der Bundesrat den Saal betritt. «Ich bewundere, dass Sie hier im Saal sitzen und nicht draussen beim Apéro am See», sagt Berset auf der Bühne. Der ganze Saal lacht. Nach seiner Ansprache betont der Organisator ausdrücklich, Berset sei mit dem Auto angereist – und nicht etwa mit anderen Transportmitteln. Der Saal lacht. Das Referat des Magistraten bezeichnet er als Punktlandung und spielt damit zum zweiten Mal auf Bersets Flug nach Frankreich an. Der Saal lacht. Berset lächelt kurz, sagt aber nichts dazu.

Herr Bundesrat, die Finanzierung der AHV ist gefährdet. Jetzt stimmen wir über die Erhöhung des Rentenalters der Frauen ab. Was sagt Ihre Frau dazu? 
Wir haben noch nicht darüber diskutiert. Ich weiss es nicht (lacht)

Man könnte schon fast das Gefühl kriegen: Kommt man bei der AHV nicht weiter, erhöht man das Rentenalter der Frauen. 
Bei dieser Reform geht es ja nicht nur um das Rentenalter der Frauen. Es geht auch um mehr Flexibilität beim Rentenalter und um die Zusatzfinanzierung über die Mehrwertsteuer. Diese Mehreinnahmen werden von allen Menschen gemeinsam erbracht. Aber es ist kein Zufall, dass das Rentenalter der Frauen in den letzten 30 Jahren fast immer im Zentrum der Reformen stand. 

Im zweiten Teil der Vorlage soll die Mehrwertsteuer von 7,7 auf 8,1 Prozent erhöht werden. Im Hinblick auf steigende Preise und die Erhöhung der Krankenkassenprämien – ist jetzt nicht der falsche Moment dafür?
Die Teuerung ist ein Problem, ebenso die steigenden Kosten in der Gesundheit. Aber ist das ein Grund, diese moderate Erhöhung der Mehrwertsteuer abzulehnen, wenn damit die AHV stabilisiert wird? Bis 2017 hatten wir einen Mehrwertsteuersatz von 8 Prozent. Dann ist dieser gesunken, weil die Zusatzfinanzierung für die Invalidenversicherung ausgelaufen war und die letzte AHV-Reform abgelehnt wurde. Jetzt würden wir bei 8,1 Prozent landen, also 40 Rappen mehr für einen Einkauf von 100 Franken. Und bei Lebensmitteln gar nur 10 Rappen mehr. Der Bundesrat hält dies für angemessen. Und die volle Erhöhung geht in die AHV.

BR Alain Berset, AHV Abstimmungsveranstaltung

Vor der Heimfahrt nach Bern gibts für Berset ein Bretzel und ein alkoholfreies Bier.

Kurt Reichenbach

Können Sie verstehen, dass die Linke das tiefere Frauenrentenalter als Pfand für die Lohngleichheit zurückbehalten will?
Dieses Argument kam schon bei der letzten Abstimmung 2017. Ich verstehe das Engagement für Lohngleichheit und finde es richtig. Aber man muss aufpassen: AHV-Reformen zu blockieren, bis die Lohngleichheit erreicht ist, bringt uns nicht weiter. Wir müssen die Situation der AHV für sich anschauen. Eine stabile AHV ist von Interesse für alle. Die Frauen sind vor allem in der zweiten Säule benachteiligt, nicht bei der AHV.

Deshalb braucht es Verbesserungen in der zweiten Säule. Aber die liegen noch nicht vor. 
Die Sozialpartner und der Bundesrat haben vor drei Jahren eine Reform der beruflichen Vorsorge präsentiert, die fair ist und die wichtigsten Probleme der Frauen löst. Das Parlament tut sich aber etwas schwer mit der Reform. 

Laut den neusten Umfragen sind 74 Prozent der Männer für die Revision, aber nur 52 Prozent der Frauen. Haben wir einen Geschlechterkampf?
Ich wäre vorsichtig mit solchen Umfragen.

Es ist schon nachvollziehbar, dass Frauen skeptischer sind, da das erhöhte Rentenalter sie direkt betrifft. 
Es ist naheliegend, dass die Frauen die Reform anders beurteilen, denn am Schluss zählt, was Ende Monat als gesamte Altersrente ausbezahlt wird. Aber auch die Männer sind betroffen, wenn ihre Frauen ein Jahr später pensioniert werden.

Wie wollen Sie die unentschlossenen Frauen überzeugen? 
Es liegt alles verständlich und transparent auf dem Tisch. Wenn wir das Rentenalter der Frauen jetzt anpassen, erhalten jene, die kurz vor der Pensionierung stehen und besonders betroffen sind, gute Kompensationen. Ob es diesen Ausgleich in einer späteren Reform so auch gäbe, ist nicht sicher. Gerade für die Frauen ist es wichtig, dass die AHV solide finanziert ist.

«Die AHV ist für meine Kindern noch kein Thema»

Alain Berset

Warum wird keine allgemeine Erhöhung des Rentenalters diskutiert? 
Wie würden Sie argumentieren? Sie wird durchaus gefordert und diskutiert. Um das Rentenalter generell zu erhöhen, müssten aber vor allem auch die Chancen älterer Menschen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden. Der Bundesrat hat stets am Rentenalter 65 für Frau und Mann festgehalten. Mit der Möglichkeit, den Übergang in die Pensionierung zwischen 63 und 70 flexibel zu gestalten.

Die letzte umfassende Revision der AHV war vor 25 Jahren. Versuche in den Jahren 2004, 2010 und 2017 sind gescheitert. Warum bekommen wir eine Revision des wichtigsten Sozialwerks einfach nicht hin? 
Vielleicht weil die AHV eine Erfolgsgeschichte ist. Bis in die 90er-Jahre ging es nur bergauf. Es gab immer mehr Menschen, die gearbeitet und Beiträge einbezahlt haben. Seit Ende der 90er-Jahre hat sich das Blatt aber gewendet. Die Generation, die die AHV so stark finanziert hat, geht nun in Rente, und auch ihre Renten müssen bezahlt werden. Das ist jetzt unsere Realität.

Sie haben drei Kinder. Wie lange denken Sie, werden Ihre Kinder arbeiten müssen? 
Ich bin überzeugt, dass auch sie eine solide AHV bekommen werden. Aber sie werden mit einem flexiblen Rentenalter selbst entscheiden, wann sie in Rente gehen.

Ist die AHV ein Thema bei Ihnen am Familientisch?
Nein. Das ist bei meinen Kindern noch kein Thema. Hat Sie das interessiert, als Sie 16 Jahre alt waren? 

Nein – noch nicht …
Mich auch nicht.

Die Debatte um das wichtigste Sozialwerk der Schweiz begleitet Sie die letzten zehn Jahre als verantwortlicher Bundesrat. Sind Sie gescheitert, wenn die Revision dieses Mal nicht durchkommt?
Ich spüre schon einen Druck, wie auch damals im Jahr 2017. Seit 25 Jahren ist keine umfassende Reform mehr gelungen. Es gibt ein starkes Interesse der Gesellschaft, die AHV zu sichern und zu modernisieren. Mit kleinen pragmatischen Schritten. 

Als Gesundheitsminister stehen Sie vor vielen Herausforderungen: Der nächste Corona-Winter naht, für die Affenpocken haben wir noch keine Impfung, die Gesundheitskosten steigen …
Ja, mein Job ist nicht langweilig! 

Hinzu kamen Schlagzeilen über Ihr Privatleben. Es gab sogar Rücktrittsforderungen. Was macht das mit Ihnen persönlich?
Ist dazu nicht schon alles geschrieben und gesagt worden?

Gibt es etwas, das Sie gern anders gemacht hätten?
Ich engagiere mich in der Politik mit sehr viel Herzblut und Leidenschaft. Dabei passieren auch Fehler. Wichtig ist, dass man daraus lernt. 

SD
Silvana DegondaMehr erfahren
Von Silvana Degonda am 28. August 2022 - 11:58 Uhr