Die Eheleute Atici sitzen im Garten und erinnern sich an den Beginn ihrer Beziehung. 1992 war Mustafa Atici für eine Weiterbildung aus der Türkei nach Basel gekommen. Cennet Atici kommt ebenfalls aus der Türkei, ist ebenfalls Kurdin, doch sie ist in der Schweiz aufgewachsen. «Du hast dich doch nur mit mir verabredet, um von mir Deutsch zu lernen!», sagt sie scherzhaft. «Nein, nein», wiegelt er ab. «Ernsthaft», sagt sie, «seit ich dich kenne, bestehst du darauf, dass wir beide Deutsch reden. Bis heute.»
Selbst wenn dies der Grund für die ersten Treffen zwischen Mustafa (53) und Cennet (49) gewesen wäre – er beliess es nicht dabei. «Zwei Monate nach meiner Ankunft in der Schweiz habe ich die ‹Basler Zeitung› abonniert», erzählt Atici. «Freunde lachten mich aus, aber ich fand das selbstverständlich.» Warum machte er sich die Mühe? «Weil in der Schweiz so vieles gepasst hat für mich: die Ordnung, der Fleiss, das frühe Aufstehen.» – «Sehr früh aufstehen!», wirft Cennet Atici ein.
Und sitzt man gemeinsam mit der Familie bei einem «kleinen» Frühstück (Couscous-Salat, Orangen, Schwarztee) im Garten ihres liebevoll dekorierten Siebenzimmerhauses im noblen Basler Bruderholzquartier, kommt man nicht umhin zu denken, dass Mustafa Aticis Strategie wohl aufgegangen ist.
Zehn Jahre zu früh?
Der SP-Mann ist im Wahlkampf. Und es ist ein doppelter: Er will für den frei werdenden Sitz von Alain Berset im Bundesrat kandidieren. So wie Daniel Jositsch (58) und vielleicht bald auch Beat Jans (59) der Aticis langjähriger Wegbegleiter und für seine Kinder «wie ein Onkel» ist. Jositsch und Jans sind deutlich bekannter als Atici und haben bessere Chancen. Atici weiss das. Und trotzdem. Als ein Journalist ihn fragte, ob er kandidieren wolle, habe er «aus dem Bauch heraus» Ja gesagt. «Ein Bundesrat namens Mustafa Atici – warum nicht?»
Er ahnt, dass er mit seiner Kandidatur wohl «etwa zehn Jahre zu früh» ist. Reelle Chancen, Bundesrat zu werden, habe er «nicht wirklich», sagt er selber. «Es geht mir auch nicht um meine Person. Aber die 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die in den letzten Jahrzehnten zugewandert sind, gehören im Bundesrat selbstverständlich dazu.»
Aber da läuft ja noch ein anderer Wahlkampf. Jener um die Sitze im Nationalrat. Und dort befindet sich Atici im Konkurrenzkampf mit seiner Parteikollegin Sarah Wyss (35). Kandidiert
er nur für den Bundesrat, um sich Aufmerksamkeit und damit die Wiederwahl in den Nationalrat zu sichern? «So denke ich nicht», widerspricht Atici, «ich bin kein Stratege.»
Für Kommissionskollege und FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen ist Atici ein «Neuling im Parlament. Als solcher kennt er sich mit den Prozessen und den Dossiers verständlicherweise noch nicht so gut aus.»
Ausgerechnet Döner!
Doch der gelernte Industrieingenieur hat das, was anderen linken Politikern fehlt: Erfahrung als Unternehmer und Arbeitgeber. Sechs Jahre lang betrieb Atici das Kebab-Geschäft City Liner in Basel. «Mir wurde schon gesagt, ich solle das nicht betonen», erzählt er, während wir von seinem Haus zur Tramstation spazieren. «Aber 1996 war Döner noch eine Marktlücke, und später haben wir den Laden mit Erfolg verkauft.»
Heute ist Atici mit einer Cateringfirma im Fussballstadion Joggeli präsent. Zu Hause wird «jeden Tag» über den FC Basel geredet. Laut Güney muss man mit seinem Vater zum Fussball, wenn man den ernsthaften Mann mal anders erleben will. «Ich schreie nie», sagt Atici, «aber als die Schweizer Nati bei der letzten WM den Penalty gegen Frankreich verschoss, haben mich wohl alle Nachbarn gehört.»
Beide Söhne, Dogucan (23) und Güney (18) wohnen noch zu Hause. Der ältere arbeitet im Büro eines Lebensmittelhändlers. Der jüngere macht die Wirtschaftsmittelschule. «Bildung und Innovation sind die einzigen Ressourcen, die wir in der Schweiz haben!», sagt Atici. Er selbst hat in Basel Wirtschaft studiert und noch einen Master am Europainstitut angehängt.
Deutsch sprechen, eine gute Ausbildung machen – das betont Atici auch gegenüber allen Zuwanderern, die nach ihm in die Schweiz gekommen sind – und ihn des Öftern anrufen und um Rat fragen. «Ich helfe gern, aber ich mag es nicht, wenn sich Leute nur in der Opferrolle sehen», sagt er. Doch wo liegt für ihn die Grenze des Bevölkerungswachstums? «Ich sehe durchaus, dass die rasante Zuwanderung auch viele Probleme macht. Die müssen wir lösen. Gleichzeitig sind der Erfolg unserer Wirtschaft und die Zuwanderung eng verbunden.»
Mehr Farbe in Bern
Wir sind mit dem Tram am Tellplatz angekommen. «Das hier», sagt Atici und zeigt auf die Kreuzung voller Cafés und Geschäfte, «ist mein Büro.» Mehrmals pro Woche ist er hier zu finden, dann erledigt er seine Büez von einem Restaurant aus, «damit die Leute mich direkt ohne Termin ansprechen können». Er selbst hat jetzt grade noch einen kurzen Termin bei seinem Coiffeur und Freund Metin Ulucan (50). Als der sich vor einer Weile selbstständig machte, hat ihn Atici unterstützt.
Zum Schluss zwei Fragen an den Zuwanderer: Was vermisst der Kurde an seiner alten Heimat? «Nichts», sagt Atici trocken. «Ausser meiner Mama und einigen Freunden. Aber das Land hat sich politisch in eine schlechte Richtung entwickelt.»
Und was vermisst er in seiner neuen Heimat, der Schweiz? «Wenn ich von Basel nach Bern fahre, sehe ich im Tram und im Zug ganz unterschiedliche Menschen. Schweizer, Expats, Secondos, Migranten. Aber kaum bin ich im Bundeshaus, ist die Farbe weg. Das will ich ändern.»