Der schillernden Welt zwischen Traum und Wirklichkeit kann man sich nicht entziehen. Menschliche Schmetterlinge sorgen mit ausladenden Flügeln dafür, dass die Zeit sekundenlang stillsteht. Akrobaten wirbeln in Kolibri-Kostümen durch die Luft. Ein Wasserfall stürzt von der Kuppel des Chapiteau. Er ist keine Illusion, sondern tosend, nass und echt. Mitten auf der Bühne versickern die Wassermassen im Nirgendwo. Wow! So etwas hat man in der Schweiz noch nicht gesehen. Das abendfüllende Programm stammt aus der Feder von Daniele Finzi Pasca, 58. Als kleiner Junge besuchte er in seiner Heimatstadt Lugano jeden Zirkus und bekam funkelnde Augen vor Glück, wenn er den Artisten beim Ausüben ihres Handwerks zuschauen durfte. Heute ist der Mann mit der weissen Lockenpracht und der schwarzen Brille selber ein Star. «In meiner Familie hatte Kultur immer eine zentrale Bedeutung. Meine Eltern waren Fotografen und in der Welt der Kreativen zu Hause. Es ist kein Zufall, dass ich mich der Kunst zuwandte.»
Finzi Pasca besitzt die Leichtigkeit des Clowns und die Tiefe des Poeten. Er ist Performer, Schriftsteller, Artist und Schöpfer gigantischer Zeremonien wie des Fête des Vignerons 2019. 2014 inszenierte er die Schlussfeier der Olympischen Winterspiele in Sotschi. In erster Linie aber ist er Mensch: «Was zählt, ist die Liebe. Dank ihr bauen wir Brücken. Sie ist das Geheimnis von allem Schöpferischen», sagt er, und seine Augen funkeln wie damals vor Glück. Jetzt nimmt er uns mit auf eine Abenteuerreise in ein selbst erschaffenes Universum. Ziel ist Mexiko als Sehnsuchtsort. «Luzia» heisst die Show. Es ist Finzi Pascas zweiter Streich für den weltbekannten Cirque du Soleil. Die kanadische Organisation mit Sitz in Montreal hat Clownerie, Akrobatik und Artistik neu definiert. Die zahlreichen Programme bieten ikonische Erlebnisse und haben seither 215 Millionen Menschen in über 70 Ländern inspiriert. Wer es in den Zirkus-Olymp schafft, gehört unbestritten zu den Besten seines Fachs.
Warum ausgerechnet Mexiko? «Es ist eine Ode an die Kultur eines Landes, die voller Verspieltheit und Tiefe ist», sagt der Kreativdirektor und Regisseur. Für sein Team ist er eine wandelnde Wundertüte. Beim Rundgang durchs Zirkusdörfli kommt man dem Cirque-du-Soleil-Geheimnis ein wenig auf die Spur. «Ciao!», «Hello!», «Salve!», «Bonjour!», rufen die Mitarbeiter ihm zu. Fast scheint es, als werde Daniele Finzi Pasca verehrt wie ein mexikanischer Sonnengott. Er schüttelt Hände, gibt Ratschläge, hat hier ein offenes Ohr, schenkt dort eine Umarmung. Alle sind ein wenig aufgeregt. Denn nur selten hält der König Hof im eigenen Reich. Der Laden läuft dank dem riesigen Engagement aller Beteiligten fast von selbst. Nur hie und da muss Finzi Pasca am Tourneeprogramm feilen und ein wenig optimieren – zum Beispiel vor einer Premiere. Nach vierjähriger Abwesenheit und zwei harten Corona-Jahren ist der Cirque-du-Soleil-Macher glücklich, vom 20. September bis 22. Oktober wieder einmal auf dem Zürcher Hardturm-Areal zu gastieren.
Das Mini-Universum auf Rädern ist ein eindrückliches Labyrinth. «Lass uns zu den Kakteen gehen», ruft der Chef fröhlich und entschwindet Richtung Schneiderei. Dort präsentieren drei Statisten stolz die stacheligen Kostüme. Mit ihrer witzigen Verkleidung sorgen sie Stunden später für Lacher im Publikum. Viel gelacht wird auch hinter den Kulissen. Der Umgang ist freundschaftlich und locker. Finzi Pasca sagt: «Ich habe grosse Achtung vor den Künstlern und ihrem Können – egal ob Sänger, Musiker, Tänzer, Schauspieler, Clown, Requisiteur oder Beleuchter. Wir sind eine Familie, das schweisst zusammen.» Zur «Luzia»-Crew gehören aktuell 110 Personen aus 26 Ländern, die 40 verschiedene Berufe ausüben. 65 Sattelschlepper transportieren 2000 Tonnen Ausrüstung. 550 Träger sorgen dafür, dass das Zirkuszelt (es ist 19 Meter hoch und 51 Meter breit) aufrecht steht. 2600 Personen finden im Grand Chapiteau Platz. Ob Küche, Wäscherei, Näherei, Maskenbildnerei, Requisitenabteilung, Proberäume, Fitnessstudio oder Duschen – im Cirque du Soleil setzt man auf Selbstversorgung. «Wir produzieren sogar unseren eigenen Strom.» Nur geschlafen wird in angemieteten Firmenwohnungen und Hotels in der Nähe.
Die Zürcher Premiere steht bevor. Alle stehen unter Strom, nur der Maestro nicht. Er ruht ganz und gar in seiner Mitte. 1983 reiste er als 19-Jähriger nach Indien, wo er als Sterbebegleiter bei Mutter Teresa in Kalkutta todkranken Menschen beistand. Und noch etwas früher arbeitete der Gründer mehrerer Theater mit der Erlaubnis der Eltern bei einem Variété in Lugano mit. «Ich half den Tänzerinnen hinter den Kulissen beim Kostümwechsel. Als ich sie so leicht bekleidet an mir vorbeihuschen sah, war ich als Bub natürlich entzückt. Mir war sofort klar: Dieser Beruf ist einfach wunderbar und unterhaltsam.» Er hat recht behalten.