Barfuss und mit einem Lächeln auf den Lippen öffnet Marthe Keller (80) die Tür zu ihrer neuen Wohnung am Genfersee. Nach einer Führung durchs Haus zeigt die Schweizer Schauspielerin auf ihre hellblaue Bluse. «Sie sieht gut aus, nicht wahr? Ich habe sie bei H&M oder Zara gefunden, ich weiss es nicht mehr.»
Marthe Keller ist eine Frau ohne Starallüren. Und dies, obwohl sie mit den ganz Grossen der Branche vor der Kamera stand: Oscar-Preisträger Dustin Hoffman (87), Al Pacino (84) – mit dem sie sieben Jahre eine Beziehung führte –, der verstorbenen Hollywood-Legende Marlon Brando und erst vor zwei Jahren mit Sir Anthony Hopkins (87). Beim Filmfestival in Lausanne wurde die gebürtige Baslerin für ihre herausragende Karriere mit dem Preis für ihr Lebenswerk geehrt.
Im Salon mit Blick auf den Genfersee liest die 80-jährige Schauspielerin gern ein Buch und hört klassische Musik.
Julie de TriboletFrau Keller, gehen Sie mit dem Preis für Ihr Lebenswerk nun in Pension?
Das hoffe ich nicht! (Lacht.) Ich habe zwei Filme geplant, aber da noch nichts unterschrieben ist, spreche ich erst darüber, wenn es sicher ist. Mir wurde auch angeboten, bei einem Theaterstück in Paris Regie zu führen. Wir machen im April eine erste Lesung, und dann werde ich entscheiden, ob ich es machen will oder nicht.
Was die Leute weniger wissen, ist, dass Sie eine grosse Musikliebhaberin sind …
Die Musik ist mir das Liebste auf der Welt, weil die Emotionen sofort spürbar sind. Als Kind und später als Jugendliche habe ich viel getanzt. Ich war schüchtern und konnte mich nicht gut ausdrücken, aber durch die Musik konnte ich es tun. Tanzen war die einzige Sache, die ich in meinem Leben wirklich machen wollte. Dann hatte ich einen Skiunfall und musste aufhören. Heute sage ich zum Glück, sonst wäre ich mit 30 Jahren arbeitslos gewesen. Die Karriere einer Tänzerin endet früh.
Dafür inszenieren Sie Opern!
Ja, das stimmt. Aber wie ich oft sage, bin ich eine Meisterin des Widerspruchs. Ich war damit einverstanden, eine nicht allzu bekannte Oper in einem nicht unbedingt grossen Saal zu inszenieren. Das habe ich 1999 mit Francis Poulencs «Dialogues des carmélites» an der Opéra national du Rhin in Strassburg getan, 2004 dann aber Mozarts «Don Giovanni» an der Metropolitan Opera in New York inszeniert. Jetzt habe ich einen Vertrag für die Philharmonie in Paris im Jahr 2027 unterschrieben. Ich habe eine Art Carte blanche.
Fotos der Schauspielerin aus jungen Jahren. Sie wurde in Basel geboren und begann ihre Filmkarriere mit 24 in Frankreich.
Julie de TriboletWie wählen Sie Ihre Schauspielprojekte aus?
Früher ein wenig naiv und narzisstisch, aber das hing von der Wichtigkeit der Rollen ab. Jetzt beschäftige ich mich zuerst mit dem Thema. Für Arte habe ich gerade die Serie «The Deal» gedreht, in der ich Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga spiele. Die Rolle ist nicht sehr gross, aber das Thema ist toll, denn es geht um die internationalen Verhandlungen im Jahr 2015 in Genf zwischen den USA und dem Iran, der im Verdacht stand, heimlich Atomwaffen zu entwickeln.
Was ist für Sie eine erfüllte Frau?
Eine Frau, die nichts bereut, die gelebt hat und nicht frustriert ist, die ihren Platz im Leben, in der Gesellschaft und zu Hause hat und die nicht zu sehr von anderen abhängig ist. Unabhängigkeit ist wirklich mein Antrieb. Ich bin von meiner Unabhängigkeit abhängig oder – wenn Sie so wollen – eine Gefangene meiner Freiheit.
Die Blumenbouquets bekommt sie von einem unbekannten Verehrer. Keller, die mit Hollywood-Star Al Pacino lieert war, lebt allein.
Julie de TriboletWas sind die Vorteile des Alters?
Es gibt viel mehr Vorteile, als man denkt. Ich würde sagen, dass es in erster Linie die Sanftheit des Lebens ist. Ich werde meditativ und schaue in den Himmel, der seine Farbe ändert. Ich lese viel und gehe auch zu Fuss, etwa zehn Kilometer pro Tag am See entlang. Abgesehen vom Spiegelbild fühlt man sich viel besser in seiner Haut. Ich fühle mich tausendmal stärker. Ich habe eine Energie, die ich noch nie zuvor hatte, und ich bin glücklich, dass ich lebe. Ich danke also dem, der dort oben ist, denn ich bin von niemandem abhängig. Und ich liebe meinen Sohn Alexandre (Alexandre de Broca; sein Vater ist der Regisseur Philippe de Broca, Anm. d. Red.).
Wie steht es mit der Liebe?
Ich mag dieses Loslassen, bei dem es nicht mehr um Verführung um jeden Preis geht. Man zerbricht sich nicht mehr den Kopf darüber, einen supersexy BH kaufen zu wollen. Ich könnte ohnehin nicht mehr in einer Beziehung leben, weil man auf alles achten muss. Heute Morgen zum Beispiel … Es war 5.30 Uhr, und ich wollte mir einen Kaffee machen. Und weil es bei mir keine Tür gibt, hätte ich Angst gehabt, Lärm zu machen und den anderen zu wecken. Natürlich ist es auch wichtig, Freunde zu haben.
Bei Ihnen zu Hause gibt es wunderschöne Blumensträusse. Ein Verehrer?
(Sie lächelt.) Ein sehr feiner Herr schickt mir Blumen, aber ich weiss nicht, wer er ist. Neulich, nach einer Lesung, lag bei einem der Sträusse ein USB-Stick. Auf diesem Stick befanden sich alle meine Interviews seit Anbeginn der Zeit, und zwar für meine Enkelinnen. Ich weiss nicht, wer dieser Mann ist, aber die Zusammenstellungen von Blumen, die er mir schickt, sind wundervoll.
Viele Zeichnungen in Kellers Haus stammen von ihrem Sohn, dem Künstler Alexandre de Broca.
Julie de TriboletSie verbringen jetzt viel Zeit in der Schweiz?
Ich fühle mich immer wohler in meinem Zuhause in der Schweiz. Aber nur, weil ich lange Zeit woanders gelebt habe. Als ich jung war, dachte ich an nichts anderes, als wegzugehen. Aber anderswo ist das Gras nicht grüner. Das versteht man natürlich erst mit der Distanz und der Zeit.
Sie lebten rund 50 Jahre in Verbier, nun haben Sie sich am Genfersee niedergelassen. Warum?
Zunächst einmal ist das Verbier von vor 45 Jahren nicht dasselbe wie heute. Alle Orte verändern sich, aber Verbier ist sehr glamourös und elitär geworden. Es gab einen Helikopter, der neben meinem Haus landete, und man wollte, dass ich meine Bäume fälle. Ich verbrachte dort 40 bis 50 Jahre des absoluten Glücks. Zudem hatte ich einen doppelten Bruch und kann auch nicht mehr Ski fahren. Wenn man keinen Sport mehr treiben kann und das Wandern auf den Gang zur Migros hinausläuft, ist es – wie mir schien – an der Zeit, an die Riviera zu ziehen.
Mit Al Pacino steht Marthe Keller 1977 für «Bobby Deerfield» vor der Kamera. Sie verlieben sich und sind sieben Jahre ein Paar. «Wir telefonieren heute noch regelmässig.»
Ron Galella Collection via Getty ImagesIch habe gehört, dass Sie Interviews nicht besonders mögen …
Ich habe das Gefühl, dass ich immer das Gleiche erzähle. Bei meinem ersten Pressetermin in New York, zum Filmstart von «Marathon Man», begannen wir um 8 Uhr und endeten um 18 Uhr. Beim letzten Interview für «Village Voice» war ich so genervt, dass ich mir ein anderes, sehr dramatisches Leben ausdachte: ein Vater, der Alkoholiker war, eine Mutter, die uns verlassen hatte, als ich zwei Jahre alt war, und so weiter. Ich habe sogar geweint, um zu zeigen, wie schmerzhaft das war … Und am Ende habe ich ihnen gesagt, dass alles nicht wahr ist. Sie waren so schlau, alles zu erzählen, und das Ergebnis war ein sehr lustiger Artikel!
Mit Oscar-Gewinner Sir Anthony Hopkins dreht Marthe Keller 2023 das Drama «One Life» über einen britischen Judenretter.
NetflixBearbeitung: Jessica Pfister