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Jean-Remy von Matt hat eine Autobiografie geschrieben

«Das Ende naht – langsam, aber sicher»

Er ist einer der ganz Grossen, wenns um Kreativität geht – der Schweizer Werber Jean-Remy von Matt. Vor 50 Jahren wanderte er nach Deutschland aus. Nun hat er eine Autobiografie geschrieben. Auch über seine Kindheit in der Schweiz. Eine Spurensuche.

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<p>Von 14 bis 18 war Jean-Remy von Matt Klosterschüler in Einsiedeln. Später trat er aus der Kirche aus. «Es war eine Überdosis Glauben im Internat», erzählt der heute 72-Jährige.</p><p></p>

Von 14 bis 18 war Jean-Remy von Matt Klosterschüler in Einsiedeln. Später trat er aus der Kirche aus. «Es war eine Überdosis Glauben im Internat», erzählt der heute 72-Jährige.

 

Fabienne Bühler

Das Anziehen war simpel: im Sommer Unterhose, T-Shirt, schwarze Kutte. Im Winter Unterhose, Pullover, schwarze Kutte. Aufstehen Punkt 6.00 Uhr. Waschen, ankleiden. 6.20 Uhr Heilige Messe. 7.10 Uhr Frühstück. Danach Schule. Die Hauptfächer: zwei Stunden Latein, zwei Stunden Altgriechisch. Täglich. Duschen: einmal in der Woche. Keine Zeitungen, kein Radio, kein Fernsehen. Keine Literatur, ausser religiöse Bücher. Zusammen mit 300 Jungs und Einheitshaarschnitt.

<p>Der ehemalige Schlafsaal im Kloster ist heute ein Schulzimmer. Jean-Remy von Matt sitzt dort, wo damals sein Bett stand, neben 15 anderen Betten.</p>

Der ehemalige Schlafsaal im Kloster ist heute ein Schulzimmer. Jean-Remy von Matt sitzt dort, wo damals sein Bett stand, neben 15 anderen Betten.

Fabienne Bühler

Das war vier Jahre lang das Leben des berühmtesten Schweizer Werbers, Jean-Remy von Matt (72). Von 1966 bis 1970 besuchte er das Internat der Benediktiner in Einsiedeln. Mit 14 kam er rein, mit 18 fiel er raus. «Ich erhielt eine Strafe aufgebrummt und sollte 100-mal ‹Gelobt sei Jesus Christus› schreiben. Ich schrieb aber ‹Gelobt sei die Freiheit›. Das wurde als provokant genug empfunden, um meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, sie sollen mich abholen.»

Verspieltes Kind

Jean-Remy von Matt wächst in einem religiösen Bildungsbürgermilieu in Zürich auf. Sein Vater führt eine katholische Buchhandlung, seine Mutter unterstützt ihn, die ältere Schwester und den jüngeren Bruder mit viel Kreativität. Die Geschwister werden zu Sparsamkeit und Bescheidenheit erzogen. Luxus war Sünde. «Ich war ein langsames Kind. Verspielt, in meiner eigenen Fantasiewelt. Deshalb haben sich meine Eltern entschieden, mich nicht in ein öffentliches Gymnasium mit all seinen Ablenkungen zu schicken, sondern ins Internat.

Sie nahmen wohl an, dass ich mich in einer geschlossenen Bubble besser aufs Lernen konzentrieren könne.» Erinnerungen an Einsiedeln: «Die Schule war sehr streng. Zu Beginn des Jahres wurde man nach Noten platziert. Die Dümmsten, darunter auch ich, sassen vorne links im Klassenzimmer. So konnte man nie abschreiben. Irgendwie gewöhnt man sich aber an jeden Mist. Geschätzt habe ich das Internat jedoch nie.»

<p>Als Kind spielt Jean-Remy von Matt Fussball beim FC Seefeld auf dem Sportplatz Lengg in Zürich – als Verteidiger. Sein erstes Geld verdient er gleich neben dem Platz, als Balljunge beim Tennisverein Grasshopper Club.</p>

Als Kind spielt Jean-Remy von Matt Fussball beim FC Seefeld auf dem Sportplatz Lengg in Zürich – als Verteidiger. Sein erstes Geld verdient er gleich neben dem Platz, als Balljunge beim Tennisverein Grasshopper Club.

Fabienne Bühler

Nach dem Rausschmiss aus dem Kloster geht er aufs Gymnasium Rämibühl in Zürich. Doch der junge Jean-Remy findet den Rhythmus nicht, bleibt sitzen, fällt durch die Matura. Er findet ihn erst, als er am 1. März 1975, 22 Jahre alt, mit einem alten amerikanischen Strassenkreuzer und einer Matratze in Düsseldorf ankommt. An seinem allerersten Tag als Werbetexter in Deutschland. «Die Materie Kreativität hat mich entdeckt. Endlich fand mein Leben einen Sinn», sagt er heute.

Legendärer Werber

«Nie hatte ich den Traum, Unternehmer zu werden. Doch ich wurde dazu gezwungen, weil ich von einer Agentur träumte, die es noch nicht gab», erzählt Jean-Remy von Matt. Zusammen mit Holger Jung gründet er 1991 die Kreativagentur Jung von Matt in Hamburg. Ihre Kampagnen für Mercedes-Benz, Porsche, Sixt oder Saturn sind einflussreich und provozieren. Ihre Slogans wie «Geiz ist geil» (Saturn) oder «BILD dir deine Meinung» («Bild-Zeitung») sowieso. Legendär auch die TV-Spots für den Schweizer Kräuterbonbon-Hersteller Ricola «Wer hat’s erfunden» mit Schauspieler Erich Vock.

Ein halbes Jahrhundert lang beherrscht Jean-Remy von Matt das Geschäft mit der Aufmerksamkeit. Vor sieben Jahren hat er als Werber aufgehört und als Künstler neu begonnen. Und jetzt ein Buch geschrieben über seine «Erlebnisse und Erkenntnisse» an der «kreativen Front». Titel: «Am Ende». «Erst als ich die Idee hatte, ein einzigartiges Buch zu schreiben, habe ich Feuer gefangen», so von Matt. «Denn mir fiel ein, das Buch so zu gestalten, dass es von Anfang bis Ende immer schlechter wird. So kann man beim Lesen an jeder Stelle sicher sein, das Beste nicht verpasst zu haben, da das Beste ja schon da war.»

Neben Anekdoten und Erzählungen gibt es da immer wieder fett und lecker Sätze, die wie Pralinen schmecken. Und Jean-Remy von Matts Ein- und Ansichten über Kreativität auf den Punkt bringen. «Gut, wenn die Leute reden – besser, wenn ihnen die Sprache wegbleibt.» Oder: «Langeweile ist gefährlich. Und tödlich, wenn sie zu lange weilt.»

<p>Schwimmen lernt der junge Jean-Remy von Matt in der Männerbadi am Bürkliplatz in Zürich. Die Holz-badi wird am 20. April 1964 durch einen Föhnsturm teilweise zerstört und später abgerissen.</p>

Schwimmen lernt der junge Jean-Remy von Matt in der Männerbadi am Bürkliplatz in Zürich. Die Holzbadi wird am 20. April 1964 durch einen Föhnsturm teilweise zerstört und später abgerissen.

Fabienne Bühler

Absoluter Sparfuchs

Obwohl sie seit zwei Jahren getrennt sind, hat Jean-Remy von Matt das Buch seiner vierten Ehefrau Natalie gewidmet. Sie sei 25 Jahre lang sein «Ein und Alles» gewesen, schreibt er. Mittlerweile ist der 72-Jährige in einer neuen Beziehung, wohnt aber allein in seiner 400 Quadratmeter grossen Duplex-Wohnung in Berlin-Mitte. Ab und zu auf Besuch: die Söhne Newton (31) und Edison (29) – aus seiner dritten Ehe. Ausser schön wohnen interessiert ihn repräsentativer Luxus nicht.

Er hat kein teures Auto, keine teure Uhr, keine teuren Kleider. «Was Mode angeht, bin ich ein absoluter Sparfuchs. Ich frage in jedem Geschäft nach den herabgesetzten Teilen.» Eitel sei er aber schon. Täglich trainiert er 14,5 Minuten und färbt sich die Haare. Jean-Remy von Matt beschreibt sich als selbstkritisch, lösungsorientiert und perfektionistisch. Aber auch als zögerlich, ängstlich und feige. Feige? «Ich traue mich oft nicht, meine Meinung zu sagen. Ausserdem bin ich eher konfliktscheu.»

Sichtbare Zeit

Am meisten Geld gibt von Matt für seine Kunstprojekte aus. Dabei geht es ihm nicht ums Geldverdienen, sondern darum, schöne Dinge zu machen. «Natürlich freue ich mich über Beachtung. Und ich freue mich natürlich auch, wenn ich die Chance habe, die Sachen auszustellen. Mich interessieren Museen viel mehr als Galerien, weil Verkaufen eben nicht so wichtig ist.» Seine Konzeptkunst – Installationen, Videos, Fotografien – ist immer mit einer Botschaft verbunden. «Es geht meistens um das Leben beziehungsweise um Vergänglichkeit, um die Zeit. Die Zeit ist ein wichtiges Thema für mich. Viele Dinge, die ich gemacht habe, haben den Hintergrund, Zeit sichtbar zu machen.»

Dazu gehört auch seine digital animierte Sanduhr – die Carpe-Vitam-Uhr –, die stetig rieselt und die Lebenszeit anzeigt, die einem gemäss Statistik bis zum Tod bleibt. Sie kostet 3300 Euro. 86 Stück hat Jean-Remy von Matt schon verkauft. 1000 Euro jeder verkauften Uhr gehen an das Land mit der niedrigsten Lebenserwartung, den Tschad. Dort unterstützt er ein Kinderspital. Seine persönliche Lebensuhr steht in seinem Berliner Wohnzimmer. «Laut Statistischem Bundesamt Wiesbaden lebe ich bis März 2037, mit Glück etwas länger, mit Pech etwas kürzer. Wie auch immer: Das Ende naht – langsam, aber sicher.»

Von Janine Urech vor 2 Stunden