Der Renntag in Adelboden bricht an, die Dämmerung hat gerade eingesetzt. Es ist neblig und kalt, als Marco Odermatt mit seinen Teamkollegen Thomas Tumler und Gino Caviezel mit dem Lift den Berg hinauffährt. Noch sind keine Fans am Chuenisbärgli. Nur die Pistenarbeiter mit ihren Schaufeln sind im Einsatz. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. «Odi», wie er von allen genannt wird, strahlt eine kindliche Vorfreude auf das Abenteuer aus, das dieser Tag für ihn bereithält. Sein Gesichtsausdruck ist der eines Kindes, das zum ersten Mal in seinem Leben eine Schneeflocke sieht. Bei seinen Heimrennen in Adelboden darf ich ihn zwei Tage lang begleiten – immer mit dem nötigen Abstand und Respekt vor seiner Privatsphäre. Der Riesenslalom am Chuenisbärgli ist der grösste Klassiker in dieser Disziplin. Die Piste ist technisch enorm anspruchsvoll, das Gelände teilweise abschüssig, und der Zielhang sucht in Sachen Schwierigkeit und Steilheit seinesgleichen.
Insgesamt 30'000 Fans säumen die Strecke, das Zielstadion gleicht einem Hexenkessel. Ich gehe wohl kaum fehl in der Annahme, dass sie sich zur Mehrheit auch versammeln, um ihren «Odi» siegen zu sehen. Genau wie im letzten Jahr und auch im Jahr davor. Einzelne TV-Stationen sind angereist, nur um diese Odi-Mania einzufangen, irgendwie begreifbar zu machen. Jeder will seinen Helden siegen sehen. Und der Protagonist? «Was macht dieser grosse Aufmarsch der vielen Fans mit dir?», frage ich «Odi» auf dem Lift, «der Druck, hier gewinnen zu müssen, muss enorm sein.» Ein Grinsen begleitet die Antwort: «Nein, das macht mir nichts aus. Ich bin entspannter als in den letzten Jahren.» Ich nehme es ihm ab.
Bei einer Kaffeepause mit Manager Michael Schiendorfer sagt dieser: «Wenn Marco entspannt und voller Vorfreude ist, musst du gut aufpassen.» Genau so erlebe ich ihn an diesem Morgen vor dem Rennen. «Odi» liebt das Skifahren. Und diese Liebe strahlt er aus. Er fährt auch an freien Tagen Ski – aus purer Freude, wie mir Manager Schiendorfer versichert. Beständigkeit, Stabilität und Loyalität sind wichtige Erfolgsfaktoren. Priska und Walti, Marcos Eltern, verkörpern ihre Rolle als Rückhalt vorbildlich. Und vorbildlich ist auch die Zusammenarbeit mit der Skifirma Stöckli und Servicemann Chris Lödler, der seit vielen Jahren an «Odis» Seite ist. Viele Ausrüster würden sich um einen Spitzenathleten wie Marco Odermatt reissen. Doch seine Weitsicht und sein Vertrauen lassen ihn bei der Firma bleiben, die ihn seit Jahren begleitet. Er kennt sein Material und weiss genau, bei welchen Bedingungen er welches Modell wählen muss, wie es sich anfühlt, was ihn erwartet. Dieses Wissen ist Gold wert.
Was aber macht ihn zum Phänomen?
Mich fasziniert, wie reif, clever und vorausschauend Marco ist. So weit, so gut. Dennoch war er mir lange Zeit ein Rätsel. Ich war kurz davor, zu behaupten, er müsse die Zeitnehmer bestochen haben. So schnell könne er bei seinen teils ungestümen Fahrten doch gar nicht sein. Legendär der zweite Lauf des Riesenslaloms in Adelboden vor einem Jahr, als Henrik Kristoffersen für mich unbesiegbar fuhr. Und dann kam «Odi». Wild fuchtelnd, scheinbar ohne Kontrolle über den Aussenski – optisch Welten entfernt von Kristoffersen. Als ZDF-Experte wollte ich schon ins Mikrofon sagen, dass er mit dieser Leistung sicher zurückfallen würde. Zum Glück behielt ich den Gedanken für mich: «Odi» fuhr erneut Laufbestzeit und deklassierte seinen nächsten Konkurrenten um fast eine Sekunde. Zusammen mit anderen Experten versuchte ich, dem Geheimnis seiner schnellen Schwünge auf die Spur zu kommen. Den entscheidenden Tipp gab schliesslich ORF-Experte Hans Knauss. «Schaut euch die Skier genau an und wie schnell sie wieder in der Falllinie sind.»
Es ist ein Gesetz der Physik, dass ein Ski, der mit der Spitze ins Tal zeigt, schneller ist als einer, der noch Radien auf den Kanten zieht. Natürlich kann man mit viel Kraft den Schwung extrem verkürzen, um dann wieder in die Falllinie zu kommen. Aber niemand im Skiweltcup versteht es, so gefühlvoll und exakt den richtigen Druck und Winkel zu erzeugen, ohne die Energie zu verpuffen. Stattdessen nimmt er die maximale Geschwindigkeit mit zum nächsten Tor. Dazu kommt seine etwas aufrechtere Körperhaltung, die ihn weniger Kraft kostet und ihm gleichzeitig mehr Sicherheit und Kontrolle verleiht. Unzählige Konkurrenten versuchen, das zu imitieren. Doch ein Fahrstil ist wie eine Signatur. Über Jahre einstudiert, erprobt, wiederholt, verbessert. Das kann man nicht von heute auf morgen ändern. Marco muss nichts. Er darf gewinnen. Er darf den Zuschauern glückliche Emotionen schenken. Er darf uns alle faszinieren. Er hat bewiesen, dass er der Beste ist. Das Publikum liebt ihn sowieso. Marco Odermatt und der Skirennsport. Das ist für mich die grosse Liebe. Für mich stellt sich höchstens die Frage, was passiert, wenn die Beziehung Risse bekommt. Wenn die Siege nicht mehr selbstverständlich sind. Ob er sich dann die kindliche Freude, die Leidenschaft und die Neugier wird bewahren können?
Am Ende ist und bleibt «Odi» ein Mensch
Skirennsport ist Extremsport. Der Grat, auf dem sich Athletinnen und Athleten bewegen, ist immer schmal. Wir alle suchen diese grosse Heraus- forderung. «Odi» vielleicht etwas mehr als andere. Es ist schwierig, ein Phänomen zu erklären, weil es ein Phänomen ist. Am Ende ist und bleibt er ein Mensch. Das sollten wir bei allen Erklärungsversuchen und Analysen nicht vergessen. Wir sollten uns zurücklehnen und geniessen, was dieser sympathische, bodenständige und teamfähige Ausnahmekönner in den Schnee zaubert. Wird er dieses Wochenende in Wengen am Lauberhorn seine erste Abfahrt gewinnen? Als Experte würde ich das verneinen. Ich würde sagen: Um bei dieser Abfahrt ganz oben auf dem Podest zu stehen, braucht es viele Lehrjahre und viel Erfahrung. Ins Mikrofon würde ich das aber nicht sagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass «Odi» mich überrascht und alle Grundregeln über den Haufen wirft.