Der Eurovision Song Contest erblickte am 19. Oktober 1955 das Licht der Welt, Sternzeichen Waage. Passt. Immer um Gleichgewicht bemüht, mit einer Neigung zu heftigem Auf und Ab bei der geringsten Gewichtsverschiebung. Die Vaterschaft ist gesichert. Ein Waadtländer namens Marcel Bezençon hatte die Idee eines Schlagerwettbewerbs nach Vorbild des italienischen Sanremo-Festivals. Monsieur Bezençon (1907–1981) war Generaldirektor der SRG sowie Vorsitzender der Programmkommission der European Broadcasting Union (EBU), eines Netzwerks staatlicher Fernsehsender aus Europa, Nordafrika und Vorderasien. Die EBU ist die Mutter aller Eurovisionssendungen. Alle Mitglieder dürfen teilnehmen, müssen aber nicht. Die Türkei oder Aserbaidschan wollen oft, Marokko nur einmal, 1980.
An besagtem 19. Oktober 1955 beschlossen die sieben Mitglieder der EBU-Generalversammlung in Genf die erste Durchführung eines Liederwettstreits. Die Geburt des ESC verlief ohne Komplikationen. Der Euro-Spross wurde auf «Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne» getauft. Das war geografisch gemeint, die EU gab es noch nicht. Der Zweite Weltkrieg lag nicht lange zurück, die Nationen wollten auf kulturelle Gemeinsamkeiten fokussieren und die Schützengräben endgültig zuschütten.
Die Schweiz ist Team Frankofon
Etwas später benennt sich der Anlass um in «Concours Eurovision de la chanson». Unsere deutschen Nachbarn indes bleiben bei Grand Prix, was zuweilen zu Konfusionen mit dem Rennsport führt. Die frankofonen Nationen inklusive der Gesamtschweiz sprechen schlicht vom «Concours». In der Deutschschweiz schimpft man mit dem ersten schüchternen Einzug von Pop-Elementen alsbald – und noch jahrelang – über den Niedergang, da die Beiträge je länger, je weniger mit «Chansons» zu tun hätten.
Das beruht auf einem sprachlichen Missverständnis. «Chanson» bezieht sich nicht auf das gleichnamige Musikgenre, dessen bekannteste Vertreter Édith Piaf (1915-1963), Françoise Hardy (1944-2024), Jacques Brel (1929-1978) oder Paolo Conte (88) sind. Chanson ist einfach das französische Wort für Lied. Und das kann alles sein. Sogar «Hard Rock Hallelujah», mit dem die Monster der Gruppe Lordi 2006 den Sieg nach Finnland holen.
Am 24. Mai 1956 sangen also im Teatro Kursaal zu Lugano sieben Länder je zwei Beiträge, musikalisch live begleitet vom Radio-Monte-Ceneri-Orchester und einem Dirigenten nach Wahl. England, Österreich und Dänemark verpassten die Anmeldefrist, und am Ende gewann bekanntlich die im Aargau geborene Lys Assia (1924-2018). Allerdings nicht mit ihrem berühmtesten Song «O mein Papa», sondern mit dem zu Recht in Vergessenheit geratenen Werk «Refrain».
Schweiz beklaut Niederlande
Die Schweiz sorgt nicht nur für den ersten ESC-Sieg, sondern auch für den ersten Skandal. Die Niederlande nämlich entsenden keine eigene Jury, sondern bitten die neutrale Schweiz um Vertretung. Prompt stimmt diese zweimal für sich selber – was die EBU fortan unterbindet. Es ist die erste, aber bei Weitem nicht einzige Änderung der Teilnahmebedingungen. Von 1966 bis 1972 und ein zweites Mal von 1977 bis 1988 gilt die Pflicht zur Amtssprache. «Pas de problème per la Svizzera.» Die Dänen findens doof, den Schweden ists egal, sie gewinnen auch mit Titeln wie «Fångad av en stormvind» (Carola 1991).
Im Jahr 1999 kommt die Sprachfreigabe – und damit Beiträge in Korsisch und Bretonisch oder in Schemaitisch, einem Dialekt aus Litauen. 2011 singt Norwegen in der afrikanischen Sprache Swahili, und Australien verblüfft 2024 mit Yankunytjatjara der Aborigines. Australien? Ja. Seit 2015 auf spezielle Einladung der EBU dabei, weil der ESC seit 1983 in Down Under übertragen wird und eine riesige Fangemeinde hat.
Die grösste Zäsur im ESC gibt es Anfang der 1990er-Jahre. Nach Glasnost und Perestroika drängt Osteuropa in den ESC, der aus allen Nähten zu platzen droht. 1993 gibt es deshalb einen eigenen Halbfinal in Osteuropa, ab 1994 Zwangspausen für punkteschwache Nationen und 1996 eine Juryvorauswahl. Seit 2008 ist Ruhe, es gilt die heutige Form mit zwei Halbfinals.
Mit Osteuropa zieht ein anderer Kulturkreis auf westliche Bildschirme. Hiess der Refrain westeuropäischer Klageweiber beiderlei Geschlechts bis dahin «seichter europäischer Pop-Einheitsbrei», so tuscheln sie nun über die «Invasion der Ostgoten» und deren seltsame Vorstellungen von guter Musik und guten Manieren. TV-Gangs vom Typus «Balkanblock», «Warschauer Pakt» und «Wikinger-Kumpanei» dominieren nach Einführung des Televotings die Punktvergabe. Die EBU schiebt dem 2009 einen Riegel, Fachjurys vergeben nun die Hälfte der Punkte. Ohnehin schaffen es nur Beiträge in die vorderen Ränge, die von Lissabon bis Hammerfest, von Reykjavík bis Jerewan Punkte erhalten.
Europa liebt uns eben nicht
Eine typisch schweizerische Spezialität indes ist geblieben: das jährliche Klöngebet über «Europa, das uns einfach nicht liebt». Sprich, wir bekommen unserer Ansicht nach konstant zu wenig Punkte. Zwar prägt helvetisches Musikschaffen auch unter Jahr eher selten die europäische Musikkultur, aber die Schweizer Beiträge sind nicht etwa zu flach, nein, die anderen sind a) gemein und b) Banausen, die eben nur blutte Beine und debiles Spektakel honorieren, oder es ist c) sowieso alles politisch. Chabis! «Wir» haben dank Nemo (25) zum dritten Mal gewonnen und uns so emotional etwas von Céline Dion (57) und Lys Assia gelöst. Aber abgesehen von einer Durststrecke zwischen 2007 und 2018 sowie gelegentlichen Nullnummern schlägt sich die Schweiz ordeli. Seit 1956 gab es fünfmal Platz 4, vier dritte und drei zweite Plätze. Belgien, das genauso lange mitmacht, musste häufiger pausieren und gewann erst einmal. Eben.
Ohnehin ist Dabeisein alles. Europas grösste Fernsehshow steht für Kitsch und Drama, für Glanz und Glamour, für Gemeinsamkeit, Toleranz und Vielfalt. Und natürlich für den Regenbogen. Der ESC gilt als grösste Gayparty weltweit. Bereits 1986 standen die ersten Dragqueens auf einer ESC-Bühne, als Norwegens Background-Chörli. An keinem anderen Abend hockt die Welt von Dublin bis Sydney in solcher Einigkeit vor dem TV und wartet auf das Eurovisionssignet und die Fanfare des Prélude aus «Te Deum» des französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier: Ta-ta-tata-tataaaa ta! Beim ersten Ton bricht im Austragungssaal jeweils kollektive Euphorie aus, ertönt ein Jubelschrei wie aus einer Kehle. Ein Hühnerhautmoment.
Man liebt ihn, und man hasst ihn. Man schaut den ESC, um zu schnöden. Über grottenschlechte Musik, dümmliche Texte, geschmacklose Outfits und Shows jenseits von Gut und Böse. Man zieht über offensichtlich taubblinde Jurys und nationalistische Dumpfbacken im Televoting her und harrt dennoch aus bis zum Höhepunkt: die Punktvergabe! Es wird gefiebert, gebangt, gezittert – und 180 Millionen in Europa tun exakt im selben Moment das Gleiche. Man gehört dazu, man gehört zusammen. Hallo, Basel, wir sind parat.
Den ESC in nächster Nähe miterleben!
Die Schweizer Illustrierte verlost zweimal zwei Tickets für das Public Viewing des ESC-Finals am 17. Mai in der Arena plus im Basler «Joggeli». Füllen Sie das untenstehende Formular aus und gewinnen Sie mit etwas Glück. Wichtig: Die Eintrittskarten sind personalisiert und nicht übertragbar sowie nur per Smartphone bzw. Ticketcorner.Pass-App abrufbar.
Teilnahmeschluss ist der 5. Mai 2025 um 12:00 Uhr.
Im Übrigen gelten die Teilnahmebedingungen unter: https://www.ringiermedienschweiz.ch/de/gewinnspiel-teilnahmebedingungen
Die Datenschutzbestimmungen sind verfügbar unter: https://www.ringiermedienschweiz.ch/de/datenschutz