Der Schlamm steht bis übers Sims vom Schlafzimmerfenster. Das darunter liegende Erdgeschoss von Ronny Thuts Wohnung ist mit braunem Dreck gefüllt. Durch das eingedrückte Fenster läuft Wasser ins Zimmer, auf dem Sims thront noch immer ein Dinosaurier von Thuts fünfjährigem Sohn Christian. «Christian ist untröstlich, dass er seine ganze Dino-Sammlung und all seine anderen Spielsachen verloren hat», sagt sein Vater. «Der Schlamm hat uns alles geraubt.»
Ronny Thut (30) und seine Mutter Andrea (56) stehen im Plattenau-Quartier ihres Wohnorts Schwanden, einem Teil der Gemeinde Glarus Süd. «Sibirien» nennen die Einheimischen ihren Dorfteil – im Winter gibts hier drei Monate lang keine Sonne. Das Absperrgitter verwehrt den Thuts den Zugang zu ihrem Haus. Denn dieses liegt in dem vom Kanton Glarus erlassenen und videoüberwachten Gefahrengebiet Rot. Darin sind seit dem 29. August Personen innerhalb und ausserhalb von Gebäuden erheblich gefährdet. Damals rutschten vom Gebiet Wagenrunse 30'000 Kubikmeter Erdreich ins Dorf. Dutzende Häuser wurden zerstört oder beschädigt, 112 Menschen evakuiert.
Viele verlieren ihr Zuhause
Vor ein paar Tagen hat Gemeindepräsident Hans Rudolf Forrer (52) die Betroffenen darüber informiert, was der Gemeinderat Glarus Süd beschlossen hat: Das Gefahrengebiet Rot darf dauerhaft nicht mehr betreten und genutzt werden: 30 Wohnhäuser und 40 weitere Bauten wie Garagen und Ställe müssen abgerissen werden. 40 der evakuierten Personen, darunter acht Kinder, verlieren ihr Zuhause.
«Es ist wie beim Tod», sagt der Gemeindepräsident, «für die Betroffenen war es eine Erlösung, auch wenn für viele der Hoffnungsfaden riss. Nun haben die Leute Gewissheit und können planen.» Die Stimmung am Infoanlass sei recht gelassen gewesen, aber auch von Trauer erfüllt. «Ich bin zuversichtlich, dass der Friede im Dorf bleibt», sagt Forrer. In Gesprächen mit Gemeindeverantwortlichen werden die Gebäudebesitzer nun rechtliches Gehör erhalten, Ende Januar folgen die Abbruchverfügungen, darauf fahren die Bagger auf, der Sortierplatz ist parat. Die Betroffenen bekommen von der Versicherung Glarnersach Geld für den Wiederaufbau ihrer Liegenschaft oder für den Kauf eines anderen Hauses – ebenfalls im Kanton Glarus.
Die Zukunft hat sich Ronny Thut anders vorgestellt. Seit 2019 lebte der Bauspengler mit seinem Sohn Christian in der Liegenschaft, die seine Eltern vor 30 Jahren erworben hatten. Diesen Sommer hat er hinter dem Haus einen Sitzplatz und einen Pool gebaut. Nach einem Umbau sollte bald ein Drei-
Generationen-Haus entstehen – für seine Eltern, ihn und Sohn Christian. «Zum Glück war niemand daheim gewesen, als der Erdrutsch kam, sagt Ronny Thut.
Wie die anderen Betroffenen aus der Zone Rot durfte er seither nicht mehr ins Haus. «Ich hatte nur noch die Kleider, die ich am Morgen des Rutschs angezogen hatte.» Hunderte DVDs, unzählige Fan-Artikel von Filmen, die Goldfische draussen im Teich – alles begraben vom Schlamm. Grosi Andrea hat ihrem Enkel Christian ein paar Dinos und eine neue Spielküche gekauft. Seit dem Erdrutsch leben Vater und Sohn bei Ronnys Eltern, im Februar ziehen sie in ihrem Dorf in eine eigene Wohnung. Ronny Thut muss alles neu kaufen. «Mal schauen, für wie viel die Versicherung geradesteht.»
Familie Hefti darf zurück
Zu denjenigen, die zurzeit nicht mehr in ihrem Haus wohnen dürfen, gehören auch Jürg Hefti (53) und seine Familie. Ihre Liegenschaft steht im Gebiet Blau. Die Gemeinde plant, dieses Gebiet mit geringer Gefährdung Anfang Juli 2024 freizugeben. Bis dann leben der Berufsschullehrer, Frau Beatrice (52) und Töchter Sina (19) und Lea (16) im Exil im benachbarten Schwändi. «Die ständigen Gedanken daran, wie es weitergeht, das war stressig», sagt Jürg Hefti. «Man fühlte sich wie im Hamsterrad. Nun haben wir eine Perspektive.»
Alle paar Tage macht Beatrice Hefti einen Kontrollgang durch ihr Haus unten in Schwanden – sie lüftet, dreht kurz die Wasserhähne auf. «Unser Quartier kommt mir vor wie ein Geisterort.» Ihr Mann macht sich Sorgen, er weiss: Manche sind durch den Erdrutsch in finanzielle Nöte geraten. «Oft müssen Rechnungen bezahlt werden, bevor die Versicherung die Schäden geprüft hat. Und es gibt offenbar nicht wenige, die keine Hausratsversicherung haben.»
Die Solidarität ist gross. Die Besitzer des Märchenhotels in Braunwald GL luden alle Betroffenen unentgeltlich für drei Tage und Nächte ein, die lokale Coop-Filiale schenkte jedem betroffenen Haushalt einen Einkaufsgutschein im Wert von 500 Franken. Einheimische Kinder verkauften Selbstgemachtes, 12'000 Franken kamen zusammen. Die Gemeinde hat ein Spendenkonto eingerichtet. «Danke für jeden Franken! Doch das bisher Gesammelte reicht nirgendwohin», sagt Jürg Hefti. «Wir Schwander hatten schon unbeschwertere Festtage.»
«Für die Betroffenen war es eine Erlösung. Nun können sie planen»
Gemeindepräsident Hans Rudolf Forrer
Ronny Thut schaut nach vorn. «Ich habe abgeschlossen. Nun plane ich die Zukunft.» Sohn Christian freut sich aufs Weihnachtsfest – auf den Wunschzettel hat er Dinos gemalt. Grosi Andrea zwinkert mit den Augen: «Mal schauen, was das Christkind bringt.»
Das Spendenkonto der Gemeinde Glarus Süd: CH16 0680 7430 1434 7456 5, Vermerk «Rutschung Wagenrunse, Schwanden»