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Ex-SBB-Chef Benedikt Weibels Kritik an Albert Rösti

«Die Bahnpolitik ist verheerend»

Verkehrsminister Albert Rösti will Milliarden für den Ausbau von Bahn und Strasse ausgeben. «Geldverschwendung», sagt der Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel. Seine Vorschlag: mehr Verbindungen zwischen den Zentren, mehr Sitzplätze und ein neuer Tunnel.

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<p>Oft hält sich «Mister Eisenbahn» Benedikt Weibel in der Natur auf: «Beim Laufen kommen mir die besten Ideen.»</p>

Oft hält sich «Mister Eisenbahn» Benedikt Weibel in der Natur auf: «Beim Laufen kommen mir die besten Ideen.»

Remo Naegeli

Mister Eisenbahn» Benedikt Weibel (79) sitzt entspannt am Pult in seinem Büro im sechsten Stock des Marazzi-Towers in Gümligen BE. Schlank und rank wie eh und je. Und das, obwohl der begeisterte Berggänger – er besitzt das Bergführerpatent – mit dem Klettern aufgehört hat: «Irgendwann musst du aus Vernunftsgründen Stopp sagen», sagt er lachend. «Doch meine Frau Verena und mich ziehts oft in die Berge zum Wandern.» Die Tür nebenan ist mit «Ogi» beschriftet. «Vor einigen Monaten hat Dölf sein Büro aufgegeben», erzählt Weibel. Der Sozialdemokrat Weibel und SVP-Alt-Bundesrat Adolf Ogi (83) arbeiteten jahrelang Tür an Tür. Die Bahn hat das Leben des dreifachen Vaters während Jahrzehnten bestimmt. Er war von 1993 bis 2006 Generaldirektor der SBB.

Ist Ihnen als Pensionär langweilig, Herr Weibel?

Mir, langweilig? Wie kommen Sie denn darauf?

Für gewöhnlich mischen sich ehemalige CEOs und Bundesräte nicht ins Geschäft ihrer Nachfolger ein.

Ich war nie aus dem Bahnmarkt weg. Aktuell engagiere ich mich, weil ich der Meinung bin, dass wir in der Schweiz eine Bahnpolitik betreiben, die verheerend ist.

Sie sprechen den von Bundesrat Albert Röstis Verkehrsexperten präsentierten Bericht über die Ausbauprojekte von Strasse und Bahn in der Höhe von etwa 113 Milliarden Franken an.

Das ist eine gigantische Geldverschwendung. So wird unser absolut grossartiges Bahnsystem gefährdet. Es ist das Grundproblem des Menschen, dass er erst weiss, was er hat, wenn er es nicht mehr hat.

Wie meinen Sie das konkret?

Wir haben ein unglaublich gutes, dichtes Bahnsystem im ganzen Land. Ich bin viel in der Schweiz und im Ausland unterwegs. Und überall mache ich ein Foto vom Abfahrtsanzeiger. Kürzlich war ich in Engelberg OW. Der erste Zug fährt am Morgen um fünf Uhr nach Luzern – der letzte nach Mitternacht. Inzwischen verkehren täglich 25 Züge nach Luzern. Zum Vergleich: Vor einigen Tagen fuhr ich von Wien nach Salzburg. Ich musste weiter nach Linz. In Salzburg traf ich mit 20 Minuten Verspätung ein. Der letzte Zug nach Linz startete um 18.12 Uhr – ich kam erst um 18.30 Uhr an. Das hiess: übernachten in Salzburg. Wir dürfen unser System nicht kaputtmachen.

Aber es schleckt doch keine Geiss weg, dass unsere Bevölkerung ständig wächst und wir in den Ballungszentren an die Kapazitätsgrenzen stossen.

So ein Quatsch! Hier, schauen Sie hinunter auf die Autobahn. Es ist jetzt 9.30 Uhr, sie ist etwa zu 20 Prozent ausgelastet. Und die Sitzplatzauslastung der SBB beträgt im Schnitt weniger als 30 Prozent. Wir haben heute hervorragende Tools, um eine Reise optimal zu planen. Dass die Aufregung übertrieben ist, zeigt auch das regelmässig bei der Bevölkerung erhobene Sorgenbarometer. Dort findet sich das Thema Verkehr nicht unter den 15 Problemen, die der Bevölkerung am meisten unter den Nägeln brennen. Wir diskutieren ständig über die Zehn-Millionen-Schweiz. Diese Menge entspricht gerade mal einem Vorort von Tokio. Ich war vor Jahren dort und habe gesehen, wie weiss gekleidete Männer die Passagiere jeden Morgen in die Züge hineinbugsierten. Das gehört in Japan zum Alltag. Von solchen Zuständen sind wir in der Schweiz noch weit entfernt.

Stopp! Die meisten Menschen können sich ihre Arbeitszeiten nicht auswählen. Und in Stosszeiten sind Strassen und Züge übervoll. Wie wollen Sie das in den Griff kriegen?

Sicher nicht, indem man für zig Milliarden blindlings ausbaut. Man muss das Bestehende optimieren. Beispielsweise die Intervalle verkürzen. Bereits an der Expo 2002 sind die Züge teilweise siebenmal so oft wie herkömmlich zwischen Zürich und Biel gefahren. Das zeigt: Es geht! Und das Naheliegendste haben wir bei der Westbahn gelernt: Man muss Züge bauen, die extrem schnelle Ein- und Aussteigemöglichkeiten bieten. Und es braucht möglichst viele Sitzplätze. Das ist die einfachste Option, um Kapazitäten zu erhöhen. Eurostar hat soeben neue Züge für den Eurotunnel nach London bestellt. Die bieten 33 Prozent mehr Sitzplätze als die Züge durch den Gotthard. Ausserdem kann man die Frequenz erhöhen. Zwischen den grossen Zentren wäre heute gemäss Verkehrsplanern in der Schweiz ein Viertelstundentakt möglich.

Also ist es die Kunst, aus wenig möglichst viel zu machen?

Genau! Mit wenigen Investitionen einen grossen Netzeffekt erzielen. Es ist momentan einfach viel zu viel Geld da. Das verhindert jegliche Kreativität. Die Branche hat den Bezug zum Geld verloren. Wenn wir jetzt über 50 Milliarden verbauen, ist das ganze Netz über Jahre eine riesen Baustelle – und die Fahrpläne werden nicht besser, sondern schlechter. Das will ich nicht. Deshalb engagiere ich mich.

Ganz gegen neue Projekte sind Sie aber nicht.

Nein, nein. Ich bin nur gegen die jetzt präsentierten sinnlosen und milliardenteuren Kleinprojekte. In der Schweiz fahren wir unglaubliche Umwege.

Wo denn?

Beispielsweise von Zürich nach Bern: eine Banane. Und von Zug und Luzern: einen Boomerang. Deshalb bin ich für eine zweite Ost-West-Achse durch den Napf im Emmental. Wenn wir das Gotthardmassiv tunneln können, dann sollte uns das am Napf auch gelingen (lacht). Wenn wir in der Schweiz etwas haben, dann sind es Top-Ingenieure. Heute fahren wir wegen diesem Napf riesige Umwege. Diese neue Strecke hätte einen Rieseneffekt für die Reisenden.

<p>Seit er mit dem Klettern aufgehört hat, wandert Benedikt Weibel viel – meist mit seiner Frau Verena.</p>

Der 79-jährige «Beppo» war von 1993 bis 2006 Generaldirektor der SBB. Begonnen hatte er 1978 als Sekretär des Präsidenten. 1990 wurde Weibel Leiter des Departements Verkehr. Bis 2022 war er Aufsichtsratspräsident der österreichischen Westbahn. Bis heute hat er ein Mandat der französischen Staatsbahn SNCF.

Remo Naegeli

Fühlen Sie sich in unseren Bahnhöfen eigentlich noch sicher?

Nicht in allen. Olten macht mir Sorgen – vor allem seit das Bahnhofbuffet nicht mehr in Betrieb ist. Das müssten die SBB unter allen Umständen aufrechterhalten, wenn ihnen etwas an den Werten Sympathie und Zuverlässigkeit liegt. Je belebter ein Bahnhof ist, desto sicherer fühlen sich die Passagiere. Vor Kurzem war ich in Schaffhausen. Im ganzen Bahnhof gibt es nicht einmal mehr einen Kaffee. Ich hatte ein Rendez-vous – wir mussten morgens um 7.30 Uhr in die Altstadt ausweichen, um einen Kaffee zu trinken. Das ist schlecht. Schauen Sie Basel, Bern und Zürich an – die sind mit ihren Geschäften und der Gastronomie top. Diese Bahnhöfe leben.

Mit welchen Verkehrsmitteln sind Sie unterwegs?

Ich war gerade an einer Geburtstagsfeier an einem der seltenen Orte in den Bergen, die mit dem ÖV nicht gut erschlossen sind. Da nahm ich das Auto. Meistens bin ich aber schon mit dem Zug unterwegs. Geschäftlich und privat. Es gibt ja auch tolle Neuheiten: beispielsweise das Interrail für Senioren. Mit meiner Frau war ich zehn Tage in Deutschland unterwegs. Ein Hit!

Also gibt es für Sie nur den Zug?

Velo fahre ich viel. Und in den Städten, vor allem hier in Bern, bin ich meist zu Fuss unterwegs. Das Tram benutze ich selten. So treffe ich zwei Fliegen auf einen Schlag: Ich achte darauf, jeden Tag 10 000 Schritte zu laufen und etwas Positives für meine Gesundheit zu machen. Gleichzeitig stosse ich keine Emissionen aus! Sie lachen – aber Fussgänger sind die am meisten unterschätzte Gruppe in Bezug auf positive Auswirkungen für unsere Umwelt.

Aktuell reden alle von der künstlichen Intelligenz – ausser die SBB.

Da muss sowieso etwas passieren. Der heutige Zugfunk läuft 2025 aus. Sämtliche Loks müssen umgerüstet werden, und die Stellwerke werden digital – ohne Kabel und Signale. Ausserdem gilt es, das Zugssteuerungssystem auf den wichtigen Strecken den europäischen Normen anzupassen. All diese Investitionen erhöhen die Kapazität der Bahn. Aber auf der Liste von den über 100 jetzt vorgestellten Vorhaben sucht man nach diesem Projekt vergeblich.

Sie waren als Bahnmanager erfolgreich – jetzt sorgen Sie als Buchautor für Diskussionen.

Heute habe ich mehr Zeit zum Schreiben als früher. In den letzten Jahren habe ich acht Bücher veröffentlicht. Darunter «Wir Mobilitätsmenschen» und «Warum wir arbeiten». Im vergangenen Monat kam mein neustes Buch auf den Markt: «Abenteuer Lesen – Hundert Quellen der Lust und Erkenntnis». Viereinhalb Jahre habe ich daran gearbeitet. Jedes einzelne der 100 Bücher nochmals genau gelesen, zum Teil zum dritten Mal, Stellen markiert und mir auf einem A4-Blatt Notizen gemacht.

Und?

Am meisten berührt hat mich Simone de Beauvoirs «Die Mandarins von Paris», am meisten geprägt das Buch «Der kurze Sommer der Anarchie» von Hans Magnus Enzensberger und tief beeindruckt «Kriegsschauplätze der Weltrevolution» von Margarete Buber-Neumann. Momentan bin ich auf Lesetournee. Langweilig wird mir nicht.

Interview: Max Fischer vor 12 Stunden