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  4. Margrit Vögtlin: Mit 100 Jahren noch voller Lebensfreude
Hut ab vor «em Vögeli»

Die Lebensgeschichte der 100-jährigen Margrit Vögtlin

Sie ist vif und hat Schalk im Nacken. Die Hälfte ihres Lebens arbeitete die Zürcherin Margrit Vögtlin als Hutmacherin. Vor Kurzem feierte «s Vögeli», wie ihre Bekannten sie nennen, ihren 100. Geburtstag. Zu Besuch bei einem lebensfrohen Original.

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<p>Margrit Vögtlin mit einem Teil der ­Kreationen, die ­sie als Modistin ­gefertigt hat.</p>

Margrit Vögtlin mit einem Teil der Kreationen, die sie als Modistin gefertigt hat.

Fabienne Bühler

«Nehmen Sie Platz, bei mir sitzt man bequem.» Mit flinken Schritten trippelt Margrit Vögtlin hinters Sofa – nach einem Griff in ihren Mini-Kühlschrank hält sie ein Fläschli in der Hand. «Bei Queen Elizabeth II. würde Tee serviert, für meine Besucher gibts Prosecco!», sagt «s Vögeli» und lacht herzhaft. «Prost! Auf unsere Gesundheit, auf meine 100 Jahre! So jung wird man ja nicht alle Tage.»

<p>Die Jubilarin in ihrem Altersheimzimmer, wie immer chic gekleidet. Hat sie Besuch, öffnet sie ein Fläschli Prosecco. «Ich habe viel und gern Besuch! Dann reden wir über Gott und die Welt. Aber nicht über Präsident Trump!»</p>

Die Jubilarin in ihrem Altersheimzimmer, wie immer chic gekleidet. Hat sie Besuch, öffnet sie ein Fläschli Prosecco. «Ich habe viel und gern Besuch! Dann reden wir über Gott und die Welt. Aber nicht über Präsident Trump!»

Fabienne Bühler

Seit zwei Jahren wohnt sie hier im Altersheim Seniorama Burstwiese in Zürich Wiedikon. «S Vögeli» wird die 100-Jährige allerseits genannt. Heimleiter Andreas Madlener: «Sie ist unser Sonnenschein. Immer voller Lebensfreude, höflich, unterhaltsam. Ich habe Frau Vögtlin noch nie unzufrieden oder hässig gesehen.»

<p>Ihr Kleiderschrank (r.) ist prall gefüllt mit eleganten Deuxpièces. «Dafür habe ich immer Geld gespart.»</p>

Ihr Kleiderschrank (r.) ist prall gefüllt mit eleganten Deuxpièces. «Dafür habe ich immer Geld gespart.»

Fabienne Bühler

Margrit Vögtlin nimmt einen zünftigen Schluck Prosecco, zupft sich ihren Jupe zurecht. «Ich bin einfach aufgewachsen, mein Vater war Hilfsarbeiter bei Saurer», beginnt sie mit feiner, doch bestimmter Stimme zu erzählen, die Worte sprudeln aus ihr heraus. Das gerahmte Hochzeitsbild steht auf ihrem Buffet. Mit 23 Jahren, am 27. November 1948, habe sie in Zürich ihren Ruedi geheiratet, er war Coiffeur. «Wissen Sie, wer fast auf den Tag genau ein Jahr vorher geheiratet hat? Elizabeth II. und ihr Philip! Die Queen und ihre eleganten Kleider und Hüte bewunderte ich schon damals. Eine Frau von Welt!»

Margrit und Ruedi lebten nicht so mondän. 150 Franken war damals der Zins für ihre bescheiden eingerichtete Dreizimmerwohnung im obersten Stock eines Mehrfamilienhauses. 82 Treppenstufen, einen Lift gab es nicht. «So bin ich fit geblieben.»

<p>Wie jeden Dienstag macht Margrit Vögtlin (Mitte) beim hausinternen Turnen mit. Donnerstags beim Hirn­training, freitags beim Yoga.</p>

Wie jeden Dienstag macht Margrit Vögtlin (Mitte) beim hausinternen Turnen mit. Donnerstags beim Hirntraining, freitags beim Yoga.

Fabienne Bühler

Ihr Rezept: viel schlafen!

71 Jahre lang lebte das Ehepaar in dieser Wohnung, Kinder waren den beiden nicht vergönnt. «Ruedi und ich hatten es gut miteinander.» 2019 starb ihr Mann an einer Lungenentzündung, kurz nach seinem 100. Geburtstag. «Wenn ich die Queen wäre, gäbe das eine Riesenbeerdigung», sei ihr damals durch den Kopf gegangen. Die ersten Wochen nach Ruedis Tod war ihr das Leben verleidet. «Doch ich habe mich wieder aufgerappelt. Ich hatte schon immer viel Energie und Lebensmut.» Warum sie noch so fit sei, wird Margrit Vögtlin oft gefragt. «Viel schlafen!» Sie steht um 6.30 Uhr auf, zum Zmorge nimmt sie ein Nature-Joghurt mit Weizenkleie und eine Tasse heisse Milch. Nur am Sonntag bestellt sie einen Kafi Hag. Ist beim Zmittag das gewünschte Menü nicht erhältlich, nimmt sie, ohne zu reklamieren, ein anderes.

<p>Ist Not am Mann, fährt «s Vögeli» auch schon mal den Kafi-Wagen aus der Altersheim­küche. «Ich war ­immer spontan.»</p>

Ist Not am Mann, fährt «s Vögeli» auch schon mal den Kafi-Wagen aus der Altersheimküche. «Ich war immer spontan.»

Fabienne Bühler

Einmal im Monat gönnt sie sich ein Glas Roten. «Vor und nach dem Zmittag schlafe ich ein bisschen.» Am Nachmittag stehen Spazieren und Einkaufen auf dem Programm, ohne Gehstock, ohne Rollator. «Einen solchen brauche ich hoffentlich nicht, bevor ich die Augen zumache.» Oder sie empfängt Besuch, sucht das Gespräch mit scheuen, einsamen Mitpensionären. Bis vor zwei Jahren hatte sie ein GA, fuhr damit quer durch die Schweiz. Zu ihrem 100. lud sie 50 Leute zum Zmittag ins Altersheimrestaurant.

Auf ihren Wunsch gabs Schnitzel und Pommes frites. «Nur nicht immer Gemüse!» Die Jubilarin kam kaum zum Essen: Sie ging von Tisch zu Tisch, erkundigte sich nach dem Wohl der Gäste. Hat jemand der Pensionäre Geburtstag, legt sie ihm ein Schoggiherz auf den Frühstückstisch. «Es gibt auch den einen oder anderen Verehrer.» Mehr will «s Vögeli» nicht verraten.

<p>All die Dutzenden von Gratulationen ­verdankt sie von Hand – gut leserlich.</p>

All die Dutzenden von Gratulationen verdankt sie von Hand – gut leserlich.

Fabienne Bühler

«Schauen Sie», sagt Margrit Vögtlin und zeigt auf den Hut auf dem Schrank, «das ist einer der vielen, die ich gemacht habe.» 50 Jahre war sie beim Modehaus Gross Couture an der Zürcher Bahnhofstrasse tätig. Als Hutmacherin – im Fachjargon Modistin – kreierte sie teils extravagante Hüte für noble Damen, auch Fürstin Gina von Liechtenstein gehörte zu den Kundinnen. «Modistin war schon als Meitli mein Traumberuf.» Für ihre passgenaue Arbeit im stillen Kämmerchen brauchte es kräftige Finger und Fingerspitzengefühl, zu den Materialien gehörten Samt, Schlangenleder, Straussenfedern, Tüll und Hasenhaar. «Bis Mitte der 70er-Jahre verarbeiteten wir noch Pelze von Nerzen, Chinchillas und Zobeln. Danach war das verpönt.» Mit ihren Kollektionen nahm Margrit Vögtlin an glamourösen Modeschauen in Hotels wie dem «Dolder» teil.

Ihr Chef Walter Gross nannte sie Ziegenbock. «Um mich zu necken. Und weil ich weiss, was ich will!» Nach dem Tod von Walter Gross ging das Geschäft 2006 an Roberto Quaglia über. Auch in dessen Atelier arbeitete «s Vögeli» als Hutmacherin, bis ins Alter von 86 Jahren. Seither besucht sie Quaglia regelmässig in dessen Geschäft. Auch an diesem Nachmittag.

<p>1986, im Atelier von Gross Couture: «s Vögeli» (damals 61, l.) an der Arbeit als Modistin.</p>

1986, im Atelier von Gross Couture: «s Vögeli» (damals 61, l.) an der Arbeit als Modistin.

Fabienne Bühler

Der Prosecco ist leer, Margrit Vögtlin hat ihr blaues Doubleface-Kleid angezogen. «Um den Bauch rum war ich auch schon schlanker.» Das 4000 Franken teure Kleid in der königlichen Farbe Purple war ein Geschenk von Roberto Quaglia zu ihrem 100. Sie bestellt ein Taxi, wenns nicht Bindfäden regnete, nähme sie das Tram. Auf der Fahrt zu Mode Quaglia am Zürcher Weinplatz schaut sie zum Fenster raus: «Man sieht kaum mehr elegant gekleidete Leute.» Auf ihren Spaziergängen trägt sie keinen ihrer Hüte mehr. «Da denken doch alle, was ist das für eine alte Schachtel.»

<p>«Ich will wissen, was heute Mode ist.» Im ­Zürcher Haute-Couture-Geschäft Quaglia schaut Vögtlin der Atelierleiterin Marisa Sprenger zu.</p>

«Ich will wissen, was heute Mode ist.» Im Zürcher Haute-Couture-Geschäft Quaglia schaut Vögtlin der Atelierleiterin Marisa Sprenger zu.

Fabienne Bühler

Ab und zu zwickts schon

«‹S Vögeli› ist da», ruft Quaglia, als Vögtlin den Laden betritt, die Mitarbeiterinnen klatschen. Er: «Wie gehts?» Sie: «Wunderprächtig. Und Ihnen?» Der Chef führt seine ehemalige Hutmacherin durch das Atelier und die Verkaufsräume, sie erkundigt sich nach Details der ausgestellten Haute-Couture-Kleider. Quaglia: «Sie machte ihre Arbeit ausgezeichnet! Oft brachte sie ein selbst gebackenes Mandelgebäck mit, für alle Mitarbeitenden. Wir nannten ihn Vögeli-Kuchen.»

<p>«Für mich und mein Team ist ‹s Vögeli› ­unsere Königin», sagt Roberto Quaglia (links neben ihr) in seinem Geschäft.</p>

«Für mich und mein Team ist ‹s Vögeli› unsere Königin», sagt Roberto Quaglia (links neben ihr) in seinem Geschäft.

Fabienne Bühler

«Schön wars bei Ihnen! Doch bald gibts Znacht», sagt «s Vögeli» und wirft Roberto Quaglia zum Abschied eine Kusshand zu. Im Altersheim setzt sie sich im Speisesaal an ihren Tisch, isst wie jeden Abend nur eine halbe Portion. Um 19 Uhr das tägliche Telefonat mit ihrer Nichte Beatrice in Wallisellen ZH. «Damit sie weiss, dass ich noch schnuufe.» Dann misst sich Margrit Vögtlin den Blutdruck. «Ich will doch keinen Hirnschlag!» Dann die «Tagesschau» – ausser «Happy Day» die einzige TV-Sendung, die sie schaut. «In letzter Zeit denke ich manchmal, wie schlecht die Welt geworden ist. Ich fühle mich vögeliwohl.» Hier lebe sie wie in einem Fünfsternehotel. «Das ist so schön!» Ab und zu zwicke es irgendwo. «Dann bleibe ich im Zimmer. Gejammert hab ich noch nie.» Angst vor dem Tod? «Nein! Auch wenn er in fünf Minuten kommt, ich bin parat. Bis dann kann ich mein Leben hoffentlich geniessen.»

<p>Vor Kurzem feierte Margrit Vögtlin ­ihren runden ­Geburtstag. Den selbst gefertigten Kopfschmuck schenkte ihr eine Hutmacherkollegin.</p>

Vor Kurzem feierte Margrit Vögtlin ihren runden Geburtstag. Den selbst gefertigten Kopfschmuck schenkte ihr eine Hutmacherkollegin.

Fabienne Bühler
Thomas Kutschera
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Von Thomas Kutschera am 6. Juli 2025 - 12:00 Uhr