«Wir fordern Sie auf, eine Maske zu tragen, wenn der Sicherheitsabstand nicht eingehalten werden kann.» Die männliche Stimme aus den Lautsprechern betont jeden einzelnen Buchstaben so eindringlich, dass man sich ohne Mund-Nasen-Schutz regelrecht schämt.
Obwohl am Flughafen Zürich keine Maskenpflicht gilt, sind praktisch keine nackten Gesichter zu sehen. Hinter einer blauen Chirurgenmaske steckt Flughafen-Chef Stephan Widrig, 48, der durch die fast leeren Hallen eilt. «Die Tragweite dieser Pandemie hat niemand vorausgesehen. Aber wir spüren, wie es jetzt wieder aufwärtsgeht», sagt der CEO. Im Frühling startete kaum ein Passagierflieger mehr. Im Juni betrug das Minus zum Vorjahr 93 Prozent. Im Juli 78 Prozent. An einzelnen Tagen erreichte der Flugverkehr nun etwa einen Drittel des Üblichen.
Der Familienvater hat gerade selbst eine Flugreise hinter sich. Mit seiner Frau und den drei Kindern genoss er eine Woche Strandferien auf Santorini – die erste Auszeit seit Ausbruch der Pandemie. «Abgesehen davon, dass wir auf dem Flug eine Maske trugen, lief alles normal und angenehm.»
Der gebürtige Bad Ragazer gehört seit 21 Jahren zur Flughafen-Crew. Vor fünf Jahren setzte er sich ans Steuer. Er kennt alle Hallen und Gänge – und natürlich auch die berühmte Besucherterrasse, die seit dem 4. Juli wieder geöffnet ist. «Sie ist nach dem Zoo Zürich die zweitmeistbesuchte Attraktion im Kanton», erklärt er stolz. «Hoi, Toni!», grüsst Widrig einen älteren Herrn, der sich ein Zvieribrötli gönnt. Tourguide Toni Habermacher erzählt seinem CEO zufrieden, dass Rundfahrten am Flughafen wieder Zulauf finden.
Auf dem 953 Hektaren grossen Flughafenareal arbeiten mehr als 25000 Personen von rund 280 Firmen. Widrig verantwortet rund 1700 Angestellte. Einer davon ist Martin Renz, 52. Mit mehr als 100 Kameras beobachtet der Betriebskoordinator Passagierströme auf acht Bildschirmen. «Seit Mitte März sind viele Abläufe anders als üblich. Erfahrung und viel Flexibilität sind gefragt», so Renz. Durch die schnell ändernden Reisebeschränkungen sei der Kontakt mit der Polizei bedeutend intensiver. Terminal-Managerin Hannah Badertscher, 40, ist die Agentin im Feld. Meldet Renz ihr zu lange Warteschlangen oder Staus, hilft sie, die Situation vor Ort zu entschärfen. In Corona-Zeiten gehört auch das Auffordern zum Maskentragen dazu. «99 Prozent folgen unserer Bitte», sagt sie. «Die wenigen, die sich weigern, fordern wir auf, den Mindestabstand von eineinhalb Metern einzuhalten.»
Die Mundwinkel von CEO Widrig machen einen Sturzflug, wenn er an den Höhepunkt der Krise denkt. «Auf Anzeigetafeln standen zeitweise nur zwei Flüge. Die Leere hat mich bedrückt.» Er erinnert sich an einen Zmittag auf der Terrasse des leeren Docks E. «Ich ass ein Sandwich und hörte anstatt Flieger die Vögel zwitschern. Das war schon sehr speziell.» Die Flaute wirkt sich auf die Geschäftszahlen aus. «Ein Jahresausblick ist aufgrund der anhaltenden Unsicherheiten nicht möglich», sagt Widrig. Der Flughafen werde die Pandemie noch mehrere Jahre spüren und der Druck auf die Kosten und den Personalbestand werde hoch bleiben. Im Moment zeigt sich Widrig aber lieber zuversichtlich: «Ich bin froh, dass die Maschine langsam wieder zum Laufen kommt.»
«Auf Anzeigetafeln standen zeitweise nur zwei Flüge»
Stephan Widrig, Flughafen-Chef
Das merkt auch Ercan Korhan. Der 57-Jährige bringt seit 23 Jahren die Schuhe von Passagieren zum Glänzen – von «Businessleuten», wie er erklärt. «Normalerweise putze ich um die 70 Paar am Tag. Jetzt sind es 20, manchmal 30.» Im Gespräch mit seinen Kunden vernehme er aber, dass es wieder bergauf gehe mit der Wirtschaft. Widrig freuts. «Wenn ich jemandem vertraue, dann dir!», sagt er, lacht und reicht ihm den Ellbogen.
«Das dort sind die wahren Helden!», ruft der Flughafen-Chef und zeigt auf Angelina Iveljic und Ahmed Warsame. Die Reinigungskräfte tragen zum Wohlbefinden der Passagiere bei. Seit Ausbruch der Pandemie desinfizieren sie häufiger Oberflächen wie Rolltreppen-Handläufe, Boxen bei der Sicherheitskontrolle oder Haltestangen in Bussen. Zusätzlich stehen 200 Desinfektionsspender und Selecta-Automaten mit Masken zur Verfügung.
Neue Aufgaben hat auch das Airport Medical Center gefasst. Die Praxis im achten Stock des Prime Center 1 bietet Corona-Tests an. Im Wartezimmer sitzt ein Pärchen mit Masken. Andrej Tschitschko, 40, will mit seiner Freundin Ferien auf den Seychellen verbringen. Dafür müssen beide bei Abflug einen negativen Test vorweisen, der nicht älter als 72 Stunden ist. Adrian Krähenbühl, 36, Leiter des Medical Center, führt das Teststäbchen tief in die Nase ein. Der Patient verzieht das Gesicht, versichert aber: «Ich habe es mir schlimmer vorgestellt. Es war unangenehm kitzlig, aber nicht schmerzhaft.» Krähenbühls Team führt 30 bis 80 Tests pro Tag durch. An Reisenden, an Airline-Personal sowie an Leuten aus der Bevölkerung.
«Vor ein paar Wochen ähnelte der Flughafen einer Geisterstadt»
Stephan Widrig, CEO Flughafen Zürich
Politikerinnen und Politiker diskutieren, ob Schnelltests am Flughafen eine Quarantäne für Einreisende aus Risikoländern verkürzen könnten. Krähenbühl hält nicht viel davon. Aus zwei Gründen: «Stellen Sie sich nur mal vor, ein A380 mit mehr als 500 Passagieren kommt aus Dubai. Die alle zu testen und zu rapportieren, wäre ein enormer Aufwand.»
Und Schnelltests seien aus medizinischer Sicht umstritten. «Wenn ich in die Schweiz fliege und hier einen Schnelltest mache, können wir gerade so gut eine Münze werfen. Der Test schlägt erst an, wenn das Virus im Körper ausbricht. Das kann vom Zeitpunkt der Ansteckung an drei bis sieben Tage dauern.» Aus denselben Gründen hält er auch nichts von Temperaturmessungen.
Flughafen-Chef Stephan Widrig nippt am Espresso im Restaurant Villa Antinori, direkt nach der Sicherheitskontrolle im Airside Center. «Vor ein paar Wochen waren Tische und Stühle mit Leintüchern zugedeckt. Der Flughafen ähnelte einer Geisterstadt.»
Dass die Gastro-Angestellten wieder hier sind, freue ihn. Widrig schätzt den direkten Kontakt. «Er ist in Krisenzeiten umso wichtiger.» Deshalb arbeitete er auch im Lockdown am Flughafen. «Zudem hatte ich drei Kinder im Homeschooling», ergänzt er lachend. Nach einem Blick auf die Uhr zieht Widrig seine blaue Chirurgenmaske an und steht auf. «Es gilt hier immerhin, einen Tanker durch die Krise zu bringen.»