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Die grosse Reportage vom Bula in Goms

Pfadi zwischen Plüschtier und «Bravo»

Nur alle 14 Jahre findet das Bundeslager der Pfadibewegung Schweiz statt. Jetzt ist es wieder so weit! 30'000 Kinder und Jugendliche campieren für zwei Wochen im Goms im Oberwallis. Was sie antreibt, was sie bewegt und beflügelt.

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Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022
Sie singen Mani Matter und lesen die «Bravo» (v. l.): Atropa, Adaja, Luani, Lepista und Asorta von der Pfadi Schwyzerstärn, Bern. Kurt Reichenbach

Adaja und Atropa sitzen im Schatten eines grossen Esszelts, in der Hand einen Teller mit Birchermüesli, im Gesicht noch Spuren von Sonnencreme und der vergangenen Nacht. Es ist spät geworden am ersten Abend im Bula – kurz für Bundeslager. «Wir haben noch lange geredet, äh, ich meine küschelet», sagt Adaja.

Die zehnjährigen Pfaderinnen sind Mitglied beim Schwyzerstärn aus Bern, bei einer der 30'000 Pfadis, die am 23. Juli für zwei Wochen nach Ulrichen im Obergoms VS gereist sind. Nun stehen ihre Zelte in Reih und Glied, noch riechts darin nur nach Mückenspray.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Ein Glückspilz, wer ein Velo dabeihat: Das Zeltlager erstreckt sich über eine Länge von 3,5 Kilometern.

Kurt Reichenbach

Adaja und Atropa, die wie alle hier noch einen bürgerlichen Namen haben, teilen sich ihren Schlafplatz mit zwei weiteren Mädchen – und zwei Jungs. «Zuerst haben wir uns überlegt, ob wir als Absperrung ein Tuch aufhängen sollen», sagt Atropa. Aber mangels Sicherheitsnadeln habe man diesen Plan wieder verworfen. Gewiss besser, denn am Ende interessieren sich in diesem Zelt alle für dasselbe: die neueste «Bravo». Wenn Buben und Mädchen dann lauthals über die Fragen an «Dr. Sommer» kichern («Kann ich ohne Sex schwanger werden?») und gleichzeitig ihren Plüschhund knuddeln, ja, dann spürt man ganz fest, wie sie zwischen Kindsein und Erwachsenwerden mäandern – wie so viele Kinder in diesem Bula.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Besser nicht das Lieblingsgeschirr mitnehmen. Wer weiss, ob es nach dem Abwasch zu einem zurückfindet.

Kurt Reichenbach

Das nationale Sommerlager der Schweizer Pfadis findet nur alle 14 Jahre statt. So gross wie im Goms war es noch nie. Rund 800 Pfadigruppen verteilen sich auf einer Fläche von 3,5 Kilometern Breite und einem Kilometer Länge und bilden temporär die zweitgrösste Stadt im Wallis: mit Zelten, Holzbauten, Open-Air-Bühne, einer Notfallpraxis, Restaurants – und gigantischem Lebensmittellager. Dort stehen unter anderem 54 Tonnen Brot, 19 Tonnen Teigwaren, 15 Tonnen Reis, 41 000 Eisbergsalate und 7,5 Tonnen Apfelmus bereit. Zweimal am Tag können die Gruppen ihre bestellten Nahrungsmittel abholen. Ausserdem gibts einen Einkaufsladen mit 180 verschiedenen Artikeln.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Auch der anspruchsloseste Pfader braucht WC-Papier. Schon nach 24 Stunden wurde das Gut knapp.

Kurt Reichenbach

Die Wölfe der Pfadi Falkenstein aus Köniz BE müssen eine halbe Stunde lang marschieren, um ihr Essen abzuholen. Sie sind ganz im Osten des Geländes beheimatet und eben erst angekommen. Nun streichen sie um die Zelte herum, spienzeln neugierig zu den Nachbarn hinüber. Die Kinder der Wolfsstufe bleiben als Einzige nur eine statt zwei Wochen im Lager, weil sie die Jüngsten sind. Wölfe lesen noch keine «Bravo». Vielmehr lieben sie Geschichten über Abenteuer und Wagemut, über Freundschaften und Vertrauen.

Wenn die neunjährige Arwen von ihrer Pfaditaufe erzählt, von Zaubertränken und Feenkräften, dann leuchtet ihr Gesicht vor Eifer. Das Bula ist ihr erstes grosses Pfadilager. «Ich war sehr aufgeregt.» Aber ihre Eltern hätten sie beruhigt. «Nun weiss ich, dass es manchmal ein bisschen gfürchig wird, aber die meiste Zeit sehr spannend ist.» Arwen hat eine kleine Plüschkatze im Gepäck – die hilft, wenn ihr das Zuhause gar weit weg vorkommt.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Die neunjährige Arwen ist zum ersten Mal in einem grossen Lager – mit der Pfadi Falkenstein Köniz und Plüschkatze Milli.

Kurt Reichenbach

Heimweh gehört zum Pfadilager wie der Ämtliplan. Dieses Gefühl, wenn einem schwer ums Herz ist, obwohl alles so schön sein könnte. Wenn man weit weg ist von zu Hause und am liebsten nur noch heimmöchte. Dann sind die Lagerleiterinnen und -leiter gefragt. Sie trösten, lenken ab, zeigen Verständnis.

Doka, Juice und Huckleberry betreuen die Kinder und Jugendlichen der Pfadi Emmenbrücke LU – und sind selbst erst seit Kurzem erwachsen. Auch das macht die Pfadi aus: dass der Altersunterschied zwischen denen, die das Sagen haben, und denen, die tun, was die sagen, nur gering ist. Dadurch entsteht ein Gefühl von Freiheit, als bewege man sich in einer Welt ohne Erwachsene.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Juice (l.) und Doka leiten die Pfadi Emmenbrücke LU. «Bei dieser Hitze geben wir den Kindern mehr Freizeit.»

Kurt Reichenbach

Dabei sind sich die Leiterinnen und Leiter ihrer Verantwortung durchaus bewusst. Gerade bei dem heissen Wetter, wenn sich die Sonne auf der Haut wie ein «Chlapf» anfühlt und jeder Schritt einer zu viel ist, müssen Doka, Juice und Huckleberry nicht nur für Schatten, sondern auch für Motivation sorgen: «Das braucht von uns doppelt so viel Energie», sagt Juice. Aber er wolle nicht klagen. «Unsere Pfadis sind manchmal fast zu brav.» Diesen Eindruck bekommt auch, wer am Tag zwei des Bula über das Gelände spaziert: Natürlich, ab und zu stolpert man über eine gebrauchte Unterhose, und im nahe gelegenen Volg decken sich die älteren Pfadis mit Bier ein. Aber sonst: alles ganz friedlich hier.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Die Kochbrigade der Pfadi Schwyz macht sich frisch. «Wir dürfen mehr als einmal pro Woche duschen.»

Kurt Reichenbach

Das kommt auch der Not-fallpraxis des Bula zugute. 70 Ärztinnen und Ärzte und über 200 Pflegefachpersonen kümmern sich um das Wohlergehen der Pfadis. In den ersten 24 Stunden seit Lagerbeginn haben rund 400 Personen den Notfall besucht. «99 Prozent kamen mit Bagatellen – Schürfungen, Stiche, Allergien», sagt Praxisleiter Raphael Stolz, 54. Der langjährige Notfallmediziner und Hausarzt aus St. Gallen arbeitet hier wie alle Helferinnen und Helfer ehrenamtlich. Er vermutet, dass die Blessuren zunehmen werden, je länger das Lager dauert. Auch die seelischen. Eine Riesenmenge von Heranwachsenden im Banne überbordender Hormone – das führt unweigerlich zu Liebeskummer und Herzschmerz.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Noch rasch abkühlen, bevors in den Ausgang geht. Der Geschinersee grenzt direkt ans Lagergelände.

Kurt Reichenbach

Einer, der das Ganze mit Humor angeht, ist Asthi, ein Koch der Pfadi St. Martin Sursee LU. Es dämmert bereits, als er in einem grossen Kessel Rüeblischalen frittiert. Um den Hals trägt Asthi ein Kondom aus gehäkelter Wolle. «Nachhaltig und waschbar, was will man mehr?», witzelt er. Auf die Frage, ob er denn auch hier sei, um jemanden kennenzulernen, sagt er kurz und bündig: «Ja.» Nur Vater werden – das dann schon nicht.

Pfadilager in Ulrichen im Goms VS, Bula 2022

Asthi (l.) und Hannibal frittieren Rüeblischalen auf dem Gasherd. Im Wallis herrscht im Freien Feuerverbot.

Kurt Reichenbach
Von Michelle Schwarzenbach am 29. Juli 2022 - 11:43 Uhr