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Künstler-Duo Riklin

«Die Zeit ist reif für einen neuen Minimalismus»

Die St. Galler Zwillinge Frank und Patrik Riklin stellen mit ihrer Konzeptkunst den Alltag auf den Kopf. Gerade haben sie die «Zehn Gebote, Teil 2» in Stein gemeisselt. Mit ihren Null-Stern-Zimmern in freier Natur definieren sie den Luxus neu.

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Wer auf der Alp erwacht oder wegen des lauten Kuhglocken-Gebimmels gar nicht erst einschlafen kann, steckt mit Frank und Patrik Riklin unter einer Decke. Ihre Schlafstätte erinnert an eine Fototapete aus den 80ern. Doch das «immobilienbefreite Zimmer» des Künstler-Duos aus St. Gallen ist echt. So echt wie der Butler, den man sonst nur im Fünf-Sterne-Hotel antrifft. Meist schlüpft der Bauer um die Ecke in die Rolle. Er sorgt sich um das Wohl der Gäste, bringt Kaffee und schüttelt die Insekten von der Bettdecke.

Es gibt Erlebnisse, die vergisst man nie. So ergeht es den Riklins 2008, als sie ihr erstes Null-Stern-Hotel im Bunker lancieren. Das Bild der Test-Familie im Pyjama geht um die Welt. Der Erfolg überrascht, irritiert, bringt festgefahrene Strukturen ins Wanken. Sogar der Hotelierverband interveniert. 2010 bietet ihnen ein russischer Investor über eine Million Euro für die Null-Stern-Idee. Drei Tage lang streiten sie, erzielen keine Einigung. Der Interessent will sich den künstlerischen Kriterien der Erfinder einfach nicht unterwerfen. «Wir sassen im Zug auf dem Weg nach Hause und lachten uns tot, wie wir die ausgeschlagene Million unserem Umfeld erklären.»

«Anpassertum, Opportunismus und Adrettisieren bringen mich auf die Palme»

Patrik Riklin
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Patrik (geboren neun Minuten nach Bruder Frank am 17. 12. 1973) studierte Kunst in Frankfurt und Berlin.

Geri Born

Wer sind die Konzeptkünstler, die seit 20 Jahren der Frage nachgehen, inwieweit sich das Potenzial der Kunst erweitert, wenn sie in sozial-gesellschaftliche Realitäten eingreift. Frank und Patrik Riklin wollen keine nebulösen Schöngeister sein, sondern Zeitgeister. Auf ihren Ideenreisen im öffentlichen Raum küssen sie verrostete Sehnsuchtsemotionen wach. Und entwickeln an der Wandtafel in ihrem «Atelier für Sonderaufgaben» im Lagerhaus in St. Gallen Visionen für die Wirklichkeit. Wie das Hotelzimmer auf der Alp, das derzeit an sieben Ostschweizer Standorten angeboten wird. Motto: «The only star is you». Das Outdoor-Erlebnis kostet 295 Franken. Bereits haben 9000 Interessierte eine Nacht unter freiem Himmel gebucht.

204 A4-Blätter haben auf ihrer Wandtafel Platz. «Die meisten Menschen hören auf zu denken, wenn das Blatt voll ist. Wir sprengen diese Grenzen», so das Ziel der Brüder. Ihre Sonderaufgaben setzen sie unabhängig, mutig, lustvoll, kompromisslos um. «Unsere Arbeit funktioniert dort am besten, wo man sie nicht erwartet. Die Auftraggeber sind keine Kunden, sondern Komplizen. Neun von zehn Anfragen lehnen wir ab – unsere DNA ist uns heilig.»

2004 lancieren sie auf dem Berg Kamor das «Kleinste Gipfeltreffen der Welt». Die Zusammenführung der Dorfpräsidenten der sechs kleinsten politischen Einheiten der Schweiz wird ein medialer Hit. Ihre Performance «Fliegen retten in Deppendorf» sorgt 2012 für einen Unternehmenswandel. «Bignik» ist ein fortlaufend wachsendes Gemeinschaftswerk mit 1000 Beteiligten, die aus alten Tüchern eine 100 Fussballfelder grosse Picknickdecke für die Ostschweiz kreieren.

Ihr neuster Coup: «Zehn Gebote Vol 2». Letzte Woche meisselten sie vor der Klosterkirche St. Gallen via Videostream neue Glaubenssätze in tonnenschwere Steintafeln (z. B. «Vertrau dem Wahnsinn, und stelle das Konventionelle infrage»). Nach der Herstellung wurden die Sandsteinblöcke am 9. Juli nach Zürich in den Finanzdistrikt gebracht und öffentlich ausgesetzt. «Wer will, kann mit dem Schweizer Blockchain-Start-up Fyooz Geld in die Werterhaltung der Gebote investieren.» Die Künstler selber schweigen zum Projekt. Was soll man auch zu einer Welt sagen, die aus den Fugen geraten ist?

Zum Geld haben Frank und Patrik Riklin ein entspanntes Verhältnis. «Obwohl der Laden brummt, bezahlen wir uns denselben Lohn aus wie vor 20 Jahren. Unsere Prämisse ‹fuck you money› bietet Raum für Selbstbestimmung. Das ist unser grösster Luxus.»

«Neid beweist, dass man etwas bewirkt und mehr richtig als falsch gemacht hat»

Frank Riklin
Frank Riklin, Patrik Ricklin, Künstler, Ricklin Brueder, Installation

Frank (geboren neun Minuten vor Bruder Patrik am 17. 12. 1973) studierte an der Hochschule für Kunst und Gestaltung Zürich.

Geri Born

Gerne vergleichen sie sich mit wilden Tieren, die aus ihrem Gehege im Zoo ausgebrochen sind. Dass sie sich partout nicht instrumentalisieren lassen, sorgt für Skepsis. Neid, finden sie, kann auch gut sein: «Vor allem beweist er, dass man etwas bewirkt und mehr richtig als falsch gemacht hat.» Die Streitkultur der Zwillinge ist hoch. Nicht immer sind sie sich über die Umsetzung einer Aktion einig. «Manchmal gehen wir uns beim verbalen Denk-Pingpong ziemlich auf den Wecker. Aussenstehende denken dann: Shit, jetzt ist es gelaufen, das renkt sich nicht mehr ein. Dabei kennen wir uns ja neun Monate länger als alle anderen», sagt Frank, der neun Minuten älter ist als sein Zwillingsbruder.

Aufgewachsen in einer Grossfamilie mit vier Geschwistern, bauten sie als Kinder gemeinsam Sandburgen und Waldhütten. Heute haben sie ihre kindliche Neugier professionalisiert, sorgen für «frische Improvisationskultur in einer von Normen und Gesetzen verkrusteten Gesellschaft». Und dafür, dass viele Probleme mit Kreativität, Humor und heiterem Ernst gelöst werden.

2008 machte die Finanzkrise Bescheidenheit salonfähig. Heute ist es Corona. «Viele Menschen verstehen nicht, was gerade passiert. Aber sie spüren, dass ein Umdenken stattfindet. Dass die Zeit reif ist für einen neuen Minimalismus.» Es ist ein wenig wie im Monopoly: von der noblen Bahnhofstrasse zurück auf Platz eins. Dort fühlen sich Frank und Patrik ohnehin am wohlsten. Sie sind überzeugt: Die nächste Revolution findet nicht digital, sondern in der Realität statt. Dafür braucht es neue Denkmodelle.

«Verfädelisierung» ist so eines. Gerade hecken sie mit einer Ostschweizer Gemeinde ein Langzeitprojekt aus. Alle Haushalte werden mit einem kilometerlangen analogen Faden verbunden. Als Antwort auf den digitalen Vernetzungswahn. Wie ein Türöffner läuft der Faden durch Privathaushalte, Balkone, Strassen, Geschäfte und Gärten und macht aus einer anonymen Gesellschaft ein Netzwerk von Komplizen. Statt Daten fliessen Emotionen. Statt Anonymität gibts Begegnungen. Frank und Patrik Riklin haben ihr Ziel erreicht. Sie lancieren einen Diskurs über Sinn und Unsinn. Und behalten die Fäden in der Hand.

Von Caroline Micaela Hauger am 12. Juli 2020 - 14:00 Uhr