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Ex-Judoka schreibt Buch

Die zweite Karriere von Judoka Sergei Aschwanden

Vom Olympiamedaillen-Gewinner zum Schriftsteller! Was der Judoka ­Sergei Aschwanden aus ­Niederlagen fürs ­Leben lernte, ­verarbeitet er in einem Buch. Die ­Erkenntnisse nutzt er auch für seine Karriere als FDP-Politiker.

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Sergei Aschwanden mit Familie

Sergei Aschwanden und seine Aargauer Frau Sonja sind seit 2011 verheiratet. Ihre Kinder Talishia, Tieno, Keiji und Mailys (v. l.) machen ihr Glück perfekt.

Julie de Tribolet

Sergei Aschwanden wollte früher immer fünf Kinder haben. Doch da hatte seine Frau Sonja auch noch ein Wörtchen mitzureden.Heute ist der Präsident des Schweizerischen Judo Verbands und Olympiamedaillen-Gewinner von Peking 2008 glücklich über die Viererbande mit Talishia (5) Tieno (7) Keiji (9) und Mailys (11) die ihn auf Trab hält. Zumal er nun noch ein weiteres Baby hat – sein erstes Buch.

«Als Bub war ich nicht gut im Schreiben», erzählt der heute 47-Jährige beim Besuch in seinem Haus aus den 1930er-Jahren, welches in einem noblen Vorort von Lausanne steht. Der Sohn eines Urners und einer Kenianerin verbringt die ersten sieben Kindheitsjahre in Bern, bevor die Familie nach Lausanne zieht. Heute spricht er genauso gut Französisch wie Schweizerdeutsch.

Heimliches Schreiben in der Nacht

Der Wunsch, ein Buch zu schreiben, entsteht schon während seiner Karriere als Profi-Sportler. Als er das Projekt schliesslich in Angriff nimmt, informiert er niemanden darüber. «Ich wusste lange Zeit nicht, dass Sergei ein Buch schreibt», sagt seine Frau Sonja, die früher Kunstturnerin war und heute Yoga unterrichtet.

Während sie im Bett schläft, tippt er mitten in der Nacht die Zeilen in seinen Computer. «Schreiben ist etwas anderes als Sprechen. Worte setzen, Begriffe finden. Vor allem wollte ich allein – ohne Hilfe – schreiben.»

Sergei Aschwanden mit Familie

Sein grösster Erfolg erreicht Judoka Sergei Aschwanden an der Olympiade in Peking 2008 mit Bronze.

Julie de Tribolet

Nun hält er sein Buch mit dem Titel «Se construire par l’échec» (sich aufbauen durch die Niederlage) in den Händen. Es ist keine Autobiografie, sondern vielmehr eine Reise in das Innere eines Sportlers. Ein «sehr persönliches Buch über die Art und Weise, wie ich funktioniere», sagt er. Als Gegengewicht dazu spickt sein ehemaliger Judokamerad, Philosoph und Kampfkunstexperte Bernard Wirz, jedes Kapitel mit feinen Parallelen, oftmals der japanischen Philosophie entnommen.

Man begegnet einigen Samurai und lustigen Judokas wie van Gogh, Bergson oder Blaise Pascal. Vom Judo, dieser «Brücke zwischen den Menschen», erklärt er zum Beispiel, wie sehr dieser Sport voraussetzt, nichts zu erzwingen. Ganz nach dem Motto von Sergeis Mentor Kazuhiro Mikami: «Der Grashalm wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht.»

Panikattacke vor dem Wettkampf

Sergeis grosser Misserfolg trägt das Datum des 17. August 2004. An diesem Morgen bei den Olympischen Spielen in Athen ist seine Medaille vorprogrammiert, auch wenn er vier Jahre zuvor in Sydney in der ersten Runde gescheitert ist. Er ist 28 Jahre alt, die Nummer 1 der Welt und zweifacher Europameister. «Ich war in der Form des Lebens.»

Doch 15 Minuten vor seinem ersten Kampf erleidet Aschwanden eine Panikattacke. Seine Hände zittern so sehr, dass er es kaum schafft, seine Tapes auf seine Finger zu kleben. Sein damaliger Trainer, der genauso hilflos ist wie er, reagiert mit verbaler Gewalt und hält ihm eine Standpauke. «Er dachte, das wäre der ein-zige Weg. Doch da machte ich noch mehr zu.» Er verliert den Kampf. Seine Welt bricht zusammen.

Sergei Aschwanden mit Familie

Aschwandens Kinder sind alle sportlich – doch für Judo hat sich keines entschieden. «Sie sollen ihren eigenen Weg gehen.»

Julie de Tribolet

Für diesen Moment des absoluten Versagens ist Aschwanden bis heute dankbar. «Wenn ich gewonnen hätte, hätte ich mich für den König der Welt gehalten.»

Seitdem wisse er, dass man durch ein emotional so heftiges Ereignis gehen muss, um sich zu ändern, um neu zu lernen. «Ich habe verstanden, dass es grundlegend wichtig ist, dass ich Freude an meiner persönlichen Entwicklung finde. Dieses Element sollte meine Hauptantriebskraft sein, nicht Erfolge oder Medaillen.» Dank dieser Einstellung gelingt ihm bei den Olympischen Spielen in Peking doch noch der grosse Erfolg: Bronze!

Niederlage als Wiedergeburt

Nach seinem Rücktritt als Profisportler im Jahr 2009 tritt Aschwanden der FDP bei und wird Direktor des Sportzentrums in der Voralpengemeinde Villars-sur-Ollon VD.

Heute leitet er den Tourismusverband der ganzen Region, sitzt im Waadtländer Parlament und kandidiert für den Nationalrat. «Wenn ich mich in einer stressigen Situation befinde, wenn ich unter Druck stehe, wenn ich ein Risiko eingehen muss, wenn ich debattieren oder in der Politik kämpfen muss, denke ich an Athen zurück», sagt Aschwanden. Die bittere Niederlage – sie war gleichzeitig seine Wiedergeburt.

Text: Marc David am 15. Oktober 2023 - 12:00 Uhr