Stickig und über 40 Grad heiss ist es unter dem Wellblechdach. Dominique Gisin, 34, rinnt der Schweiss übers Gesicht, ihr Blick wandert fragend durch den Raum: «Eine ganze Familie lebt hier drin?» Yawa Mewezino, 27, nickt. Sie hat die Schweizerin in ihre Hütte eingeladen, in Bidjadadé, einer Streusiedlung im westafrikanischen Togo.
Während Mewezino ihre Tochter Clarissa stillt, erzählt sie Gisin, wie sie und ihre drei Kinder auf 16 Quadratmetern leben. Nebenan hat sie eine winzige Küche – auch dort kein Strom, kein fliessend Wasser. Gisin hört zu, will wissen, wie Yawa ihren Alltag bewältigt. Clarissa ist eingeschlafen. Ein Test hat soeben ergeben: Das Mädchen ist mit Malaria infiziert. Doch seine Mutter hat vom medizinischen Helfer das rettende Medikament bekommen. Sie weiss: Früher sind im Dorf viele an Malaria gestorben. Vor allem Kinder.
Togo gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Kinder sterben bei der Geburt 20-mal häufiger als in der Schweiz, Mütter gar 70-mal. Grund sind schlechte medizinische Versorgung sowie Mangel an Nahrung und sauberem Trinkwasser. Seit 25 Jahren engagiert sich das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) in diesen Bereichen, zusammen mit dem Togolesischen Roten Kreuz und dem einheimischen Gesundheitsministerium. 200 000 Menschen in 169 Dörfern der Region Centrale erreicht das SRK mit seinen Projekten. Als ehrenamtliche Botschafterin schaut sich Dominique Gisin die Arbeit vor Ort an.
Acht Stunden hat die Fahrt bis ins abgelegene Bidjadadé gedauert. Auf Schotterpisten, die letzten zwei Kilometer zu Fuss auf einem schmalen Weg. Vorbei an Feldern, auf denen die 370 Einheimischen Maniok, Mangos und Bananen anpflanzen – davon leben sie. Während der Fahrt lacht Gisin. «Ich habe lieber minus 20 als plus 20 Grad.»
Die Obwaldnerin hat sich intensiv auf Land und Leute vorbereitet. «Elawole!», sagt sie, als sie von den Bewohnern begrüsst wird – grüezi heisst das im lokalen Dialekt. «Ich bin Dominique. Danke, dass wir euch besuchen dürfen.» Der Dolmetscher übersetzt.
Yawa Mewezino lädt die Besucherin zum nahen Brunnen, setzt sich eine Blechschüssel auf den Kopf, Gisin macht es nach. Vor zehn Jahren haben Einheimische den Ziehbrunnen gebaut, mit Spendengeldern aus der Schweiz. Davor mussten sie das Wasser aus einem Fluss holen, vor allem während der sechsmonatigen Regenzeit war dieses dreckig – viele starben an Durchfall. Yawa füllt ihre Schüssel mit 25 Litern, Dominique sagt nach zehn Litern stopp! Dann balanciert sie die Schüssel auf dem Kopf bis vor Yawas Küche. Kein bisschen Wasser schwappt über, die Einheimischen klatschen. Die Abfahrts-Olympiasiegerin nimmt ihr Handy hervor. Im Nu ist sie von Jugendlichen umringt, die ganz Kleinen jedoch beobachten sie verstohlen, sie haben noch nie eine Weisse gesehen.
Gisin zeigt Fotos: auf der Skipiste, mit Schwester Michelle, ihre Wohnung in Engelberg. Der Gast merkt rasch: Schnee erklären in Afrika? Unmöglich! Die Kids interessieren sich für die Fotos, die Gisin in ihrer Cessna 182 zeigen; sie macht die Ausbildung zur Berufspilotin. «Haben Sie Kinder?», fragt eine Frau. – «Das ist noch kein Thema.» Mit ihrem Freund Pascal, einem Piloten, lebt Gisin in ihrer Zweitwohnung in Zürich. An der ETH Zürich machte sie den Bachelor in Physik, heute arbeitet sie für die Schweizer Sporthilfe.
Es wird viel gelacht auf dem Dorfplatz. Auch Essosimna Kamanaou, 65, schaut auf die Fotos. Yawas Nachbar ist einer der Freiwilligen, die vom Roten Kreuz zu medizinischen Helfern ausgebildet wurden. Diese übernehmen in ihren Dörfern die frühzeitige Behandlung von Malaria, Durchfall und Keuchhusten.
Scheu winkt Yawas Sohn Gérard die Besucherin zu sich, er möchte ihr etwas zeigen. Gérard nimmt Dominique an der Hand und führt sie hinter Yawas Hütte. Dort steht eine Latrine. Jedes Haus hat nun eine. «Früher machten alle ihr Geschäft einfach auf den Feldern, zwischen das Gemüse», erzählt Gérard. «Viele wurden krank und starben.» Gisin ist beeindruckt: «Auf manchem WC in der Schweiz riechts unangenehmer.» Zum Abschied kommen alle. «Danke, dass Sie gekommen sind», sagt Yawa. «Danke auch der Schweiz für ihre Hilfe. Sie gibt uns Hoffnung.»
Am folgenden Tag besucht Gisin im Dorf Kpakparakpade die Schule. Auch hier gibts nun dank einem Brunnen frisches Wasser, die Jugendlichen lernen, damit verantwortungsvoll umzugehen, sich die Hände zu waschen.
Und sich gesund zu ernähren! Lehrer Tchédjau Pessel – seine Ausbildung in Pflanzen- und Gemüsekunde hat das SRK bezahlt – gibt im schuleigenen Garten sein Wissen weiter. «Baut ihr auch zu Hause einen solchen Garten?», fragt Gisin. Die meisten nicken.
Am Nachmittag trifft sie auf dem Dorfplatz zwei Frauen vom Club des mères, dem Klub der Mütter. Diese sind in ihrem Dorf als Gesundheitsberaterinnen unterwegs: Sie betreuen Frauen vor, während und nach der Geburt, informieren sie übers Stillen, Impfen und HIV. «Sie leisten wichtige Arbeit», sagt Gisin. Eine Einheimische erzählt: «Bei uns geht alles langsam. Aber unsere Ratschläge werden beherzigt.»
Auf dem Rückweg zum Flughafen zeigt Gisin sich tief beeindruckt. «Die Menschen hier haben ein beschwerliches Leben. Doch sie machen kein Drama darum. Sie sind herzlich, stolz, tief geerdet. Das holt mich auf den Boden zurück.» Nach ihrem Rücktritt vom Sport hat sie von ihrer Schwester ein Tagebuch erhalten, als Widmung schrieb Michelle: «Los lo bambele!» In Bandwurmsätzen formuliert Dominique darin ihre Erlebnisse und Gefühle. «Ich bin entspannter geworden», sagt sie. Afrika hilft mir weiter auf diesem Weg.»