Der Himmel wolkenlos, die Sonne strahlt. Schnee, so weit das Auge reicht. Die drei Snowboarder, die ihre Spuren im frischen Tiefschnee ziehen, fallen auf mit ihrem Können im Wintersportgebiet Hoch-Ybrig. Kein Wunder – unter Helm, Kappe und Brille verbergen sich Profis: die frühere Halfpipe-Weltmeisterin Fabienne Reuteler, sie heisst heute Dirksen, ihr amerikanischer Ehemann Josh – bis heute eine bekannte Grösse in der Szene – und Tochter Alana, 7, die bereits mit 18 Monaten das erste Mal auf einem Snowboard stand.
Ein Tag wie dieser ist für Familie Dirksen aber alles andere als selbstverständlich. «Dass ich noch hier bin, ist ein Wunder», sagt Fabienne, als sie aufs Nebelmeer hinunterblickt. Ihr Mann wird konkreter: «Ich bekam zu hören, sie wird nicht überleben, sie wird blind sein, sie wird einen Hirnschaden haben, sie wird nie wieder Sport treiben können – nun sind wir hier.» Und Tochter Alana sagt: «Mami ist jetzt auch sieben Jahre alt – wie ich.»
Es ist der 21. Mai 2013, der das Leben von Fabienne und Josh, damals drei Jahre verheiratet, schlagartig verändert. Sie ist in der 41. Schwangerschaftswoche, sechs Tage über dem errechneten Termin. Beim Untersuch am Morgen: alles in Ordnung. So wie die ganze Schwangerschaft hindurch, abgesehen von den üblichen Beschwerden.
«Ich hatte keine Angst vor der Geburt. Mit Schmerzen umzugehen, bin ich aus dem Spitzensport gewohnt, dachte ich. Ich stellte mich dennoch auf einen Marathon ein.» Am Abend wird ihr plötzlich schlecht, sie muss erbrechen. Das Paar fährt sofort ins Spital. «Mir war noch immer kotzübel.» Das ist das Letzte, woran sich Fabienne erinnert – als sie zwei Monate später und mehr als zwanzig Kilo leichter aus dem Koma erwacht.
«Eines wusste ich instinktiv: dass ich nun eine Tochter habe»
«Ich war wie im Nebel, nahm alles dumpf wahr. Ein Zustand zwischen schlafend und wach. Ich war so schwach, konnte keinen Finger bewegen. Die Augen offen zu halten, war eine riesige Anstrengung. Ich wusste nicht viel, doch eines instinktiv: dass ich eine Tochter habe. Als Josh mir das winzige Geschöpf auf den Arm legte, fehlte mir die Kraft, es zu halten. Ich konnte weder sprechen noch schlucken. Ich realisierte: Dieser Marathon wird noch viel länger dauern.»
Damals weiss sie nicht, dass die Ärzte im Paracelsus Spital in Richterswil ZH ihre Tochter mit einem Notkaiserschnitt retten mussten, weil sich die Plazenta bereits vollkommen von ihrem Körper abgelöst hatte. Oder dass Josh ihr das Baby auf die Brust legte, sie aber bereits nicht mehr reagierte, weil sie durch eine Schwangerschaftsvergiftung, auch Präeklampsie genannt, am ganzen Körper Krämpfe bekam. Und dass am Tag, an dem sie ihrer Tochter das Leben schenkte, ihr eigenes Leben aus ihrem Körper zu entweichen drohte.
Fabienne wird auch erst später erfahren, dass sie an multiplem Organversagen litt, dass ihre Lunge kollabierte und sie drei Viertel ihres Blutes verlor. Dass sie nach der Verlegung ins See-Spital Horgen mit einem äusserst riskanten, aber lebensnotwendigen Rega-Flug ins Zürcher Unispital kam. Sie hat auch keine Ahnung, dass ihr Mann in den ersten Tagen auch um das Leben der gemeinsamen Tochter fürchtete. Und dass die beiden sie erst besuchen konnten – vorher wurden sie nicht aus dem Geburtsspital entlassen –, nachdem Josh sich für einen Namen für ihre Tochter entschieden hatte: Alana Maria Dirksen.
Fabienne hat sich die eigene Geschichte in den vergangenen Jahren Stück für Stück zusammengesetzt. Aus den medizinischen Akten, die sie aufbewahrt hat. Aus den Erzählungen ihres Mannes, für den es allerdings noch heute schwierig ist, ausführlich über die traumatische Zeit zu sprechen. Aus dem Tagebuch, das er für sie geschrieben hat. Und aus den Aussagen ihrer Eltern und Freunde. Nach und nach rekonstruiert Dirksen auch eigene Gefühle und Erinnerungen – und merkt, dass diese sich mit den Erzählungen von Dritten decken.
«Jeder Tag ist nun ein Bonus. Deshalb habe ich mit Alana neu begonnen, meine Lebensjahre zu zählen»
Wenn Fabienne Dirksen heute von den Geschehnissen erzählt, wirkt sie nicht traurig oder verbittert. Manchmal hält sie inne, um sich genau zu erinnern. Vor allem aber wirkt sie gleichermassen dankbar wie erstaunt, dass sie – abgesehen von den Narben des Luftröhrenschnitts am Hals, einem einseitigen Hörverlust und einer eingeschränkten Lungenkapazität – wieder gesund ist, was laut den Ärzten einem Wunder gleichkommt.
So wie Fabienne schon immer war, «eine positive Nudel», wie sie ihre beste Freundin Tanja beschreibt, «wild, ehrgeizig, immer mit Vollgas», wie ihr Mann sagt, so ist sie auch heute noch. Oder sogar mehr denn je. «Jeder Tag ist nun ein Bonus, und ich schätze das Leben auf ganz andere Weise. Deshalb habe ich mit Alana neu begonnen, meine Lebensjahre zu zählen», erzählt Dirksen.
«Die Zeit im Koma ist für mich wie ein reeller Traum. Darin kamen die Mediziner in Form von Zahnarztgehilfinnen vor. Und auch ein Arzt, ein Familienfreund, war eine zentrale Person im Traum. Ich habe erst später erfahren, dass er tatsächlich da war. Zudem regnete es die ganze Zeit – und das tat es tatsächlich in diesem Sommer in Zürich. Offensichtlich habe ich Stimmen wahrgenommen. Auch Gefühle waren ganz stark verankert. Ich spürte warm, kalt, Durst, nahm Lichter und Gerüche wahr sowie Stimmen und Emotionen der Leute um mich herum. Eine Nahtoderfahrung mit dem Licht, wie man es immer hört, hatte ich keine.»
Das Erlebte hat auch ihren Ehemann geprägt – auf andere Weise. Bei ihm hat die Zeit Spuren der Angst hinterlassen. «Ich werde wohl nie mehr so unbekümmert durchs Leben gehen, was meine Familie anbelangt», sagt der Profi-Snowboarder. Während der acht Wochen, die seine Frau im künstlichen Koma liegt, besucht Josh sie mit Alana täglich. Stets legt er die gesunde Tochter neben ihre kranke Mutter ins Bett. «Ich funktionierte einfach. Fight-or-flight mode», beschreibt der 44-Jährige die Extremsituation.
Er wohnt in jener Zeit mit Alana bei Fabiennes Eltern. «Ich stellte mich jeden Tag darauf ein, dass es ihr letzter ist. Ich wollte Alana noch möglichst viele Tage mit ihrer Mutter geben. Hoffnung, dass alles noch gut kommt, hatte ich wenig.»
Die verschiedenen Perspektiven auf das Erlebte machen die Situation für das Paar nicht einfach. Doch für beide ist heute klar: «Die Erfahrung hat uns für immer zusammengeschweisst.» Das Verhältnis von Mami und Tochter ist ebenfalls innig und vertraut. «Auch ohne Bonding oder Stillen», sagt Dirksen. Sie ist überzeugt, dass Müttern diesbezüglich zu viel Druck gemacht wird. «Die Bindung von Mutter und Kind ist noch viel tiefer.» Der beste Beweis: Irgendwo in der Schwebe zwischen Leben und Tod spürt Fabiennes Körper die Anwesenheit ihres Babys. Nach einem Monat im Koma bekommt sie den Milcheinschuss.
Ihre Snowboard-Karriere hat Dirksen 2004 beendet, um sich auf den Abschluss ihres Wirtschaftsstudiums zu konzentrieren. Heute arbeitet sie als Marketingleiterin bei Swiss Side, einem Laufradhersteller. Mit dem Rücktritt hat sie sich auch bewusst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Dass sie heute bereit ist, ihre Geschichte zu teilen, hat mehrere Gründe. Tochter Alana ist alt genug, um zumindest ansatzweise zu verstehen, was passiert ist.
Der Zeitpunkt hat auch mit der Corona-Pandemie zu tun. Dirksen gehört zur Risikogruppe und muss extrem vorsichtig sein. Doch jammern will sie nicht. Im Gegenteil: Gerade jetzt, wo viele Menschen leiden, will sie mit ihrer Geschichte Hoffnung schenken. «Ich möchte zeigen, dass man selbst in einer scheinbar ausweglosen, hoffnungslosen Situation das Positive finden kann. Ich möchte den Menschen Mut machen, dass es sich lohnt zu kämpfen.» Ihr Weg geht nämlich auch nach der Zeit im Unispital steinig weiter. Erst in der Rehaklinik in Bellikon AG, einer Institution für verunfallte Menschen.
«Als ich dort ankam – im Rollstuhl –, dachte ich: Zwei Monate soll ich hierbleiben? Ich gebe zwei Wochen Vollgas und bin dann wieder weg. Trainingslager – das passt mir ja! Oh, wie ich mich täuschte. Ich war tatsächlich zwei Monate da. Jeden Tag eine Schachtel Tabletten, jeden Tag Therapie. Wenn ich eine Übung 15-mal machen sollte, machte ich sie den halben Tag lang immer wieder 15-mal. Je mehr, desto besser, dachte ich. Das war zu viel für meinen Körper. Ich war verzweifelt, wollte ich doch wieder zur Familie, wieder laufen, wieder Sport treiben. Ich musste lernen, geduldig zu sein.»
Ihr Kampf, gepaart mit Geduld, hat sich ausbezahlt. Heute kann sie wieder aktiv sein mit der Familie, was sie braucht wie die Luft zum Atmen. Sie treibt wieder Sport, wenn auch auf tieferem Niveau. Und sie hegt neue Träume. Etwa, einen Triathlon zu absolvieren. Ein Ziel, das sie vor zwei Jahren wegen Rückenschmerzen zurückstecken musste. Zeit dafür hat Fabienne Dirksen mit ihren sieben Jahren ja genügend.