Frau Mathis, am Wahlabend der Europawahlen am 9. Juni hat der französische Präsident Emmanuel Macron – relativ überraschend – das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt. Nimmt das politische Hickhack den Franzosen und insbesondere den Parisern die Vorfreude auf die Spiele?
Mirjam Mathis: Ich denke, dass das alles eher ausserhalb von Frankreich Verunsicherung hervorruft. Die Wahlen führten in Paris eher dazu, dass mal über etwas anderes diskutiert wurde. Das Olympia-Bashing war nicht mehr so im Fokus. Vorher hat man sich über die vielen Baustellen aufgeregt in der Stadt und dass die Spiele die Innen-stadt blockieren werden. Die Wahlen haben den Fokus davon weggenommen. In Paris merkt man die olympische Vorfreude erst langsam, etwa seit dem 14 juillet und der Ankunft des olympischen Feuers in der Hauptstadt.
Warum wollte Macron diese Neuwahlen so kurz vor den Olympischen Spielen in Paris?
Das Lager von Emmanuel Macron hat bei den Europawahlen schlecht abgeschnitten. Er wollte eine Antwort liefern. Er hat definitiv alle überrascht – sogar in den eigenen Reihen. Und da hat er auch einige auf dem linken Fuss erwischt. Ich denke, Macron hatte Angst, dass im Herbst seine Regierung gestürzt werden könnte. Er hat gern die Fäden in der Hand, will selbst entscheiden. Ob man das nachvollziehen kann, ist eine andere Frage.
Am 7. Juli kam es dann zu den Stichwahlen. Überraschenderweise gab es keinen Rechtsrutsch, wie nach dem ersten Wahlgang erwartet wurde. Die meisten Sitze holte die linke Allianz. Was bedeutet das für die Regierung von Macron? Und für die bevorstehenden Spiele?
Das Horrorszenario für Emmanuel Macron ist nicht eingetroffen. Aber er wird nach wie vor stark kritisiert für die Auflösung des Parlaments kurz vor den Olympischen Spielen. Die ganze Welt schaut nach Frankreich, die Regierung ist gefordert, sicherheitstechnisch und logistisch. Und nun steckt Frankreich in einer Regierungskrise. Die aktuelle Regierung ist nur noch für Alltagsgeschäfte im Amt, bis eine neue Regierung steht. Und diese zu bilden, ist kompliziert, da sich bisher keine Mehrheit abzeichnet im Parlament. Man hofft natürlich dennoch, dass die Politik keine grossen Auswirkungen auf die Spiele haben wird.
Wie könnte es weitergehen?
Das weiss man nach wie vor nicht. Die Franzosen haben keine Erfahrungen mit Koalitionen. Es gibt nun drei fast gleich grosse Lager, und diese sind sich spinnefeind. Irgendwann muss es eine Entscheidung geben. Vielleicht wird dann doch eine linke Regierung ge- bildet, und diese wird dann wieder gestürzt. Beobachter rechnen damit, dass bis in einem Jahr, wenn die Nationalversammlung erneut aufgelöst werden könnte, eine Regierung nach der anderen gestürzt wird. Die Lager können sich gegenseitig blockieren.
Wird man während Olympia etwas merken von den politischen Spannungen?
Ich finde es ziemlich unglücklich, dass das neue Parlament seit dem 18. Juni tagt, also genau in der Zeit, in der Paris zu einer Hochsicherheitszone umgebaut wird. Für die Eröffnungszeremonie auf der Seine wurden sechs Kilometer komplett abgesperrt, eine logistische Herausforderung. Seit Monaten heisst es, man solle dann das Zentrum meiden und wenn möglich Homeoffice machen. Und nun kommen die 577 Parlamentarier und ihre Entourage genau dann in die Nationalversammlung, die am Ufer der Seine steht. Zudem sind wegen der politischen Brisanz eine Menge Medienschaffende akkreditiert. Ich glaube aber nicht, dass die politische Situation Konsequenzen hat für Olympia, ausser es würde irgendwo zu wüsten Demonstrationen kommen.
Wie ist es heute für die Bewohnerinnen und Bewohner von Paris, jetzt, wo die Spiele kurz bevorstehen? Was hat sich für Sie konkret verändert?
Die Stadt verändert sich sehr, schon seit Monaten. Es gibt verschiedene Installationen, vor allem im Zentrum, wo die Wettkämpfe stattfinden. Zum Beispiel beim Trocadéro, auf dem Champ de Mars (Marsfeld/Red.), bei der Place de la Concorde oder bei Invalides. Der Seine entlang wurden Gitter aufgestellt, viele Sehenswürdigkeiten sind abgesperrt, es ist derzeit ein anderes Paris. Ich muss auch immer schauen, wo ich noch durchkomme. Auf einmal ist eine Brücke abgeriegelt, und ich muss einen Umweg machen. Die beste Lösung ist aktuell das Velo. Auch mit dem ÖV ist es kompliziert, mehrere Stationen sind gesperrt.
Wie ist die Stimmung unter den Pariserinnen, Parisern?
In Paris haben die grossen Sommerferien angefangen. Viele sind noch länger dageblieben wegen der Wahlen. Aber jetzt leert sich die Stadt langsam. Sehr speziell ist, dass man ursprünglich mit vielen Touristen gerechnet hat. Tatsächlich sind aktuell aber weniger da als sonst um diese Zeit. Viele Hotels oder Restaurants haben Angst, dass weniger Leute zu den Spielen kommen und es am Ende für sie eine Verlustrechnung wird. Vor einem Jahr fand man kaum noch Zimmer, die Preise gingen durch die Decke. Und nun sind viele Hotels doch nicht ausgebucht, auch wegen Annullierungen.
Stellen Sie Veränderungen fest bei den Preisen, etwa für Essen, Eintritte oder den ÖV?
Die Museen haben ihre Preise bereits Anfang Jahr erhöht, der Louvre, Versailles oder auch der Triumphbogen. Sie beriefen sich auf die Inflation. Am meisten diskutiert wurde die Erhöhung des Preises für ein Tagesticket im ÖV von 2,10 auf 4 Euro für die Zeit während Olympia. Mitte September sollten die Preise wieder runtergehen. Begründet wird dies mit dem Ausbau des ÖV. Neu gibt es eine Metrolinie, die bis zum Flughafen Orly fährt. Das ist sicher auch positiv für die Touristen. Bisher war es kompliziert, mit dem ÖV in die Stadt zu kommen.
Wie sieht es aus mit Terroranschlägen? Besteht da eine Gefahr, und wie geht die Regierung mit der Thematik um?
Das ist ein grosses Thema, das Frankreich stets begleitet. Seit dem Attentat in Russland im März gilt in Frankreich bereits die höchste Attentats-Alarmstufe. Aktuell wird im Osten der Stadt ein Militärlager eingerichtet mit Platz für 4500 Soldaten einer Sondereinheit, die auch schon in Afrika stationiert war. Alles, was das Land an Sicherheitskräften zu bieten hat, wird im Einsatz sein. Das sind über 30 000 Polizisten und 20 000 private Sicherheitskräfte pro Tag. Auch Drohnenüberwachung ist vorgesehen. Ich denke, Paris ist sehr gut vorbereitet, und der Fokus liegt extrem darauf, Anschläge zu verhindern. Aber eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht.
Und doch soll die Eröffnungsfeier auf der offenen Seine stattfinden.
Das ist ein bisschen verrückt. Normalerweise findet die Eröffnung in einem Stadion statt, welches gut gesichert werden kann. Man muss einen enormen Aufwand betreiben, um diese sechs Kilometer im Zentrum von Paris abzusichern. Die Organisatoren werden erst im letzten Moment entscheiden, ob das so wirklich stattfinden kann. Wenn es einen Hinweis gibt, dass etwas passieren könnte, wird die Zeremonie entweder verkürzt oder ganz ins Stade de France verlegt. Die Organisatoren wollen natürlich, dass man über die Spiele redet. Diese Aufmerksamkeit ist aber auch ein Pokerspiel.
Apropos Seine: Was halten Sie von der ganzen Diskussion um die Verschmutzung des Flusses und der Idee, die Triathleten darin schwimmen zu lassen?
Das ist in der Pariser Bevölkerung vielleicht das grösste Thema (lacht). Paris hat 1,4 Milliarden Euro investiert, um die Seine zu säubern. Ein politisches Grossprojekt. Die Stadtpräsidentin und die Sportministerin sind schon in den Fluss gesprungen, um die Sauberkeit zu demonstrieren. Es braucht aber nur ein grösseres Unwetter, und die Wettkämpfe können nicht in der Seine stattfinden. Auch das wird im letzten Moment entschieden werden.
Was wünschen Sie sich persönlich von den Spielen? Werden Sie auch ein paar Wettkämpfe besuchen und mitfiebern?
Ich hoffe, dass es keine Zwischenfälle gibt und die Spiele ein Erfolg werden. Natürlich werde ich arbeiten und wahrscheinlich ziemlich beschäftigt sein. Meine Familie konnte aber ein paar Billette ergattern, vor allem für die Beachvolleyball-Spiele. Bei der Leichtathletik oder beim Schwimmen waren uns die Preise viel zu hoch. Und als ich die Tickets für die Eröffnungsfeier sah für 1500 Euro, wurde mir ganz anders. Wir dachten, unser halber Freundeskreis aus der Schweiz würde versuchen, bei uns unterzukommen. So schlimm ist es nicht geworden (lacht). Aber wir bekommen schon einiges an Besuch.