«Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich an den Frauenstreik denke!», sagt Flavia Kleiner, 29, bei der Saffa-Insel in Zürich. Unser Treffpunkt ist ein historischer Ort der Frauenbewegung: Architektinnen und Ingenieurinnen erbauten die Insel 1958 für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit. Hier erinnert die Gründerin der politischen Organisation Operation Libero und Mit-Initiantin der Kampagne «Helvetia ruft!» an die historische Demonstration am 14. Juni 2019.
«Wir brachten die Energie des Frauenstreiks von der Strasse ins Bundeshaus»
Flavia Kleiner
Flavia Kleiner, Frauen in Zürich wollen am Jahrestag erneut protestieren, weil die Forderung nach Gleichstellung noch nicht erfüllt sei. Sehen Sie das genauso?
Ja, denn obwohl die Gleichstellung seit 40 Jahren in unserer Verfassung verankert ist, gibt es nach wie vor viel zu tun! Etwa bei der Lohngleichheit, der Altersvorsorge oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Was war für Sie der grösste Erfolg des Frauenstreiks 2019?
Dass im Herbst so viele Frauen ins Parlament eingezogen sind. Im Nationalrat stieg der Frauenanteil von 32 auf 42 Prozent, ein historisches Ereignis! Wir brachten die Energie des Streiks von der Strasse ins Bundeshaus. In dieser Legislatur können und müssen wir nun konkrete Veränderungen für die Gleichstellung schaffen.
Spüren Sie, dass mehr Frauen national Politik machen?
Nächste Woche diskutiert der Nationalrat über Gleichstellung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Corona-Krise. Ohne den Einfluss der Frauen wäre dieses Thema nicht auf den Tisch gekommen.
Was erwarten Sie von dieser Debatte?
Frauen haben uns durch die Corona-Krise geschippert – in der Pflege, im Verkauf und in der Betreuung. Es hat sich klar gezeigt, wie wichtig diese Berufe sind. Das sind aber auch genau die Jobs, die besonders belastend und unfair bezahlt sind. Das muss sich nachhaltig ändern. Auch sind nun viele Branchen von Entlassungswellen bedroht, in denen häufig Frauen arbeiten.
Werden vor allem Frauen unter den Nachwehen der Krise leiden?
In allen grossen Krisen der Geschichte steckten Minderheiten und Frauen am meisten ein. Etwa während der Ölkrise in den 70er-Jahren: Da wurden die italienischen Gastarbeiter zurück nach Hause geschickt und die Frauen zurück an den Herd. Das darf nicht noch mal passieren.
Sie treten nach sechs Jahren als Co-Präsidentin von Operation Libero zurück. Was waren Ihre Highlights?
Es war toll, als ich 2018 in einer kleinen Runde von jungen Europäern Barack Obama in Amsterdam traf und wir über eine Stunde mit ihm reden konnten. Er begrüsste uns mit einem freundlichen «Good morning everybody» und machte einige Witze. Wir diskutierten offen, und er hat uns darin bestärkt, uns für die Gesellschaft zu engagieren. Die letzten Jahre bin ich viel gereist und habe in fast allen europäischen Ländern Politiker und Aktivisten getroffen.
Warum treten Sie zurück?
Ich bin noch jung. Mit 23 Jahren habe ich Operation Libero mitgegründet. Wir haben vieles in der Schweiz verändert, auch scheinbar festgefahrene Tatsachen wie die Machtposition der SVP. Mein Engagement hat mir grosse Freude bereitet. Jetzt ist der Moment für mich gekommen, weiterzuziehen.
Sie wurden als «SVP-Albtraum», als «eine der einflussreichsten Persönlichkeiten Europas», aber auch als «überbewertet» bezeichnet. Was hat das grosse Medieninteresse mit Ihnen gemacht?
Klar, ab und zu habe ich einen Druck gespürt. Ich habe aber ein super Umfeld, eine tolle Familie und Freunde, die mir immer den Rücken gestärkt haben.
Apropos SVP: Sie verlassen die Bewegung nun ausgerechnet vor dem nächsten Volksbegehren der SVP, der Kündigungsinitiative. Wollten Sie nicht bis im September bleiben?
Die Abstimmung wäre ein schöner Abschluss gewesen. Wegen Corona wurde sie verschoben, und ich hatte meine Entscheidung bereits getroffen. Ein super Team wird die Kampagne weiterführen – und hoffentlich gewinnen!
Wollen Sie in die Politik?
Es ist eine grosse Chance, die Gesellschaft mitzugestalten. Mit Operation Libero habe ich das vorerst auf eine andere Art gemacht. Später kann ich mir ein Polit-Amt vorstellen. Ich weiss aber noch nicht, für welche Partei ich kandidieren soll.
Wie sieht Ihr Plan nach Operation Libero aus?
Auch in Zukunft will ich mich für unsere Freiheit und die Demokratie einsetzen. Mein Engagement wird wahrscheinlich internationaler.
Wollen Sie auch etwas abschalten?
Ja, ich freue mich darauf, mehr zu lesen und nicht nur von einem Termin zum anderen zu hetzen – und natürlich auch den Sommer zu geniessen