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Oberste Pflegerin Yvonne Ribi

«Gefährlich, weil zu wenig Personal da ist»

Mit der Pflegeinitiative will die oberste Pflegefachfrau der Schweiz, Yvonne Ribi, die angespannte Lage in den Spitälern und Heimen verbessern.

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Yvonne Ribi, Pflegefachfrau, Pflegeinitiative, SI 43/2021

Die gelernte Pflegefachfrau, 45, lebt mit ihrer Partnerin in Zürich.

Kurt Reichenbach

«Wir haben schon zum vierten Mal Kampagnenmaterial nachbestellt», erzählt Yvonne Ribi als Erstes, als sie im Berner Bildungszentrum Pflege zum Interview eintrifft. Sie blufft nicht. Vielmehr ist sie ehrlich überrascht. Vor vier Jahren hat die 45-Jährige als Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachpersonen (SBK) die Pflegeinitiative mitlanciert. Am 28. November kommt diese zur Abstimmung. Auch wenn Ribi längst keinen weissen Kittel mehr trägt – «Blut abnehmen oder Verbände anlegen kann ich noch immer».  

Frau Ribi, warum haben Sie sich als junge Frau für die Pflege entschieden?
Ich wollte einen Beruf erlernen, der sinnvoll, abwechslungsreich und nahe bei den Menschen ist.

Sie waren knapp zehn Jahre am Unispital Zürich tätig. Gab es Tage, an denen Sie vor lauter Stress nicht zur Toilette gehen konnten?
Natürlich, vor allem die Spät- und Nachtdienste waren wegen der dünnen Personaldecke intensiv. Manchmal war ich mit einer Hilfskraft allein für 18 Patienten zuständig. Aber mir war von Anfang an klar: Pflege ist ein harter Job, körperlich und emotional. Doch die Belastung hat in den letzten Jahren ein Mass angenommen, das nicht mehr tragbar ist. Heute ist es normal, dass Pflegende von Zimmer zu Zimmer hetzen, Überstunden leisten und nachts aufschrecken, weil ihnen in den Sinn kommt, dass sie etwas vergessen haben.

Wie konnte es so weit kommen?
Seit der Einführung der Fallpauschalen liegen Patientinnen und Patienten immer kürzer im Spital. Wer vor 15 Jahren eine Hüftprothesenoperation hatte, blieb zwei Wochen, heute sind es noch drei bis fünf Tage. Die Folge ist, dass die Betten nur noch mit Menschen belegt sind, deren Pflege sehr aufwendig ist. Dasselbe gilt für die Pflegeheime: Die meisten Eintritte geschehen heute erst im hohen, pflegebedürftigen Alter.

Was bedeutet das für die Pflegenden?
Sie gehen an den meisten Tagen unzufrieden nach Hause, weil sie wissen, sie hätten viel mehr für die Patienten machen können, wenn sie dazu gekommen wären.

Konkret – wofür fehlt die Zeit?
In Pflegeheimen kommt es vor, dass ein dementer Menschen mit Stuhlinkontinenz mehrere Stunden in seinen Exkrementen liegen muss, weil andere Aufgaben dringender sind. Ein anderes Beispiel: Ein Patient hat nach einem Hirnschlag eine Schluckstörung und müsste beim Mittagessen unterstützt und überwacht werden. Aber dafür bleibt keine Zeit. Hinzu kommt: Wenn nicht genügend qualifiziertes Personal vorhanden ist, nehmen Komplikationen im Spital zu. Man erkennt zum Beispiel zu spät, dass ein Patient eine Lungenentzündung entwickelt.

Yvonne Ribi, Pflegefachfrau, Pflegeinitiative, SI 43/2021

«Wir fühlen uns ethisch dafür verantwortlich, dass niemand zu Schaden kommt»: Yvonne Ribi. 

Kurt Reichenbach

Dann kann ein Mangel an Pflegefachpersonal lebensgefährlich sein?
Im schlimmsten Fall – ja. Wir versuchen das natürlich mit allen Mitteln zu verhindern. Aber Fakt ist: Heute entstehen gefährliche Situationen, weil zu wenig Personal da ist. Darum muss sich endlich etwas ändern. 

Warum haben Sie den langen Weg der Volksinitiative gewählt? 
Seit dem ersten nationalen Versorgungsbericht von 2009 ist klar: Die Schweiz bildet zu wenig Pflegende aus und hat gleichzeitig zu viele Berufsaustritte. Wir vom SBK haben jahrelang versucht, mit den Spitälern, den Kantonen und dem Bund Lösungen zu finden – vergeblich. Die Initiative war unsere letzte Möglichkeit. Jetzt brauchen wir das Volk! 

Aber die Pflegenden haben doch die Macht in Händen. Gingen sie einen Tag nicht zur Arbeit, bräche das Spital zusammen. 
Streiken liegt nicht in unseren Genen. Wir fühlen uns ethisch dafür verantwortlich, dass niemand zu Schaden kommt, wollen die Patienten nicht sich selbst überlassen. Das wäre das allerletzte Mittel. Pflegende geben immer auch ein Stück von ihrer Persönlichkeit in die Situation. Schon Pflegepionierin Schwester Liliane Juchli schrieb: «Ich pflege als die, die ich bin.» Wenn sich ein Patient übergeben muss, hält man ihm nicht einfach die Schale hin, sondern steht ihm bei, legt vielleicht eine Hand auf seinen Rücken.

So wie Sie erzählen, hat der Pflegeberuf viel mit Berufung zu tun. Warum steigen trotzdem 40 Prozent der Pflegenden frühzeitig aus?
Weil sie wegen des enormen Zeitmangels nicht so pflegen können, wie es die Patienten brauchen. Das ist emotional belastend. Ein Drittel der 20- bis 24-Jährigen steigt direkt nach der Ausbildung aus. Diese jungen Menschen wollen und können sich diesem Druck nicht mehr aussetzen!

Die Pflegeinitiative will Abhilfe schaffen. Nebst einer Ausbildungsoffensive fordert sie bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal auf den Stationen. Das kostet …
Wenn wir den Anteil der diplomierten Pflegefachpersonen erhöhen, steigt die Lohnsumme, das stimmt. Dafür gibt es weniger Komplikationen bei den Patienten, weil mehr Zeit für die professionelle Pflege bleibt. Zahlen zeigen: Wenn 80 Prozent der Pflegeleistungen von diplomiertem Personal erbracht wird, sparen wir 357 Millionen Franken pro Jahr.

Sie sprechen immer nur von diplomierten Pflegenden. Was ist mit der Spitex-Mitarbeiterin, die ohne Diplom einen Riesendienst leistet?
Sie ist sehr wichtig, darum fordern wir ja auch für sie bessere Bedingungen. Aber wir brauchen vor allem Leute, die die Komplexität einer Situation erfassen. Wenn sich ein Patient übergibt, muss ich wissen, ob das wegen des Narkosemittels ist oder ob er gerade einen Herzinfarkt macht. Dafür braucht es Fachkenntnisse – und Zeit für die Beobachtung.

Bundesrat und Parlament geht die Initiative zu weit. Darum haben sie einen Gegenvorschlag ausgearbeitet. Warum sind Sie damit nicht zufrieden? 
Der Gegenvorschlag zielt hauptsächlich auf eine Ausbildungsoffensive. Aber nur Pflegende ausbilden reicht nicht. Wir müssen die Leute auch im Beruf halten können. Dafür braucht es bessere Arbeitsbedingungen: genügend Personal auf den Schichten, familienfreundliche Strukturen und Möglichkeiten zu Lohnerhöhungen.

Der Bund soll einer Berufsgruppe eine Sonderstellung in der Verfassung einräumen. Ist das nicht unfair gegenüber anderen Branchen?
Ich verstehe, dass man sich etwa in der Gastronomie fragt: Warum soll nur die Pflege in der Verfassung gestärkt werden? Aber wie gesagt: Die Initiative war unsere letzte Möglichkeit.

Wie sehr hat Corona Ihre Anliegen befeuert?
Die Pandemie hat die Missstände in der Pflege fassbar gemacht. Die Leute haben gesehen, was es heisst, wenn zu wenig Pflegepersonal da ist. Dass es nicht mehr selbstverständlich ist, dass ich nach einem schweren Unfall bestmöglich versorgt werde

Von Michelle Schwarzenbach am 30. Oktober 2021 - 15:59 Uhr