Henni und Pfiff sind nicht etwa zwei Comicfiguren. Nein, Henni, das ist Hendrik Werner (42) Ex-Rad-Profi, Coach und Lebensgefährte von Tour-de-Suisse-Siegerin Marlen Reusser (34). «Zu Beginn unserer Beziehung nannte ich sie Pfiffi, weil Marlen immer so pfiffig ist. Später wurde daraus Pfiff auf Zack. Auch hier aus den gleichen Gründen. Marlen ist einfach immer auf Zack», so der Deutsche. An diesem Tag allerdings plagt eine Grippe die gebürtige Bernerin. «Henni hat sie mir weitergegeben», sagt sie. Seit Anfang Jahr wohnt und lebt das Paar in einer schmucken, modernen Wohnung in Andorra La Vella. Gross ist ihr Apartment nicht – warum auch? «Hier dreht sich alles um den Radsport. Trainieren, duschen, essen, trinken, erholen, schlafen», so Reusser. Was langweilig klingt, ist gewollt. Die Wohnung dient dem Rückzug und der Erholung.
Zeit für Zweisamkeit. Die Erkältung zwingt das Paar, in der Wohnung zu bleiben. Eine Partie «Rummikub» lenkt ab.
GABRIEL MONNETDie Radsportlerin will trotz Grippe ein wenig frische Luft schnappen. Auf dem Balkon stehen ein Kaktus und drei Topfpflanzen – direkt neben dem Haus befindet sich ein riesiger Kran. Es wird munter gebaut. «Allein in unserem Block leben mehrere Radprofis. Eine Teamkollegin von Marlen ist gleich nebenan – wenn Pfiff backt, bringt sie ihr ein Brot rüber», so Werner. Er schätzt, dass gegen 200 Berufsradfahrer im kleinen Land zwischen Frankreich und Spanien leben. Das Trainingsgebiet inmitten der Berge, auf 1000 Metern über Meer gelegen, ist ideal. Dennoch: «Für immer bleibt hier kaum jemand. Spätestens nach der Karriere gehen alle nach Hause.»
Zurück im Wohnzimmer: Marlen Reusser macht es sich auf dem Sofa gemütlich. Lesen ist eines ihrer Hobbys. Ihr aktuelles Buch: «Luchs» von Urs Mannhart. Auch «Rummikub», ein Legespiel mit Zahlenplättchen, ist hoch im Kurs. Muss jene Person, die verliert, jeweils putzen? «Nein. Wenn etwas gemacht werden sollte, wird es gemacht – einfach so», erzählt Werner. Er gibt zu, dass Reusser viel mehr auf einmal erledigt als er. «Das Wort Multitasking wurde für Marlen erfunden», meint er schmunzelnd, während sie sich ein Stück Wassermelone schneidet.
Henni ist der Chef an der Kaffeemaschine, Pfiff frönt ihrem Hobby, dem Lesen. «Er arbeitet, ich geniesse», sagt sie lachend.
GABRIEL MONNETImmerhin: Bei der Kaffeemaschine ist Werner der Herr im Haus – mit geschickten Handgriffen macht er einen Espresso für seine Liebste. «Henni arbeitet, und ich geniesse», so Reusser lachend. Auch jetzt, obwohl kränkelnd, ist sie nicht um einen Spruch verlegen. Vor allem aber zeichnet Reusser etwas aus: ihre Neugierde. Das war schon immer so – ob in der Schule, als Violinistin, Präsidentin der Jungen Grünen in Bern oder beim Medizinstudium. Reusser redet gern, hört aber auch zu und saugt alles wie ein Schwamm auf. Ihr starker Wille ist ein entscheidender Faktor für ihren Erfolg. Dazu gehört, dass Reusser nicht immer tut, was von ihr erwartet wird – wie im WM-Zeitfahren 2023, als sie als Favoritin mitten im Rennen vom Sattel stieg. Es war schlicht nicht ihr Tag.
Eigentlich immer auf Zack, zurzeit jedoch durch eine Grippe geschwächt: Marlen Reusser erholt sich beim Stricken.
GABRIEL MONNETImmer wieder lange getrennt
Vor sechs Jahren entschied sich Reusser dazu, ihren Kittel als Assistenzärztin in der Chirurgie gegen das Velodress einzutauschen. Sie gab damit einen gut bezahlten Job für ein neues, unbekanntes Abenteuer auf. «Ich mag Veränderungen. Das war schon immer so.» Bald betritt der Rad-Tausendsassa schon wieder Neuland. Die erste Rad-WM in Afrika steht an – kommende Woche steigt Reusser in Ruanda in den Sattel. «Auch wenn die Vorbereitung wegen meiner gesundheitlichen Rückschläge nicht ideal war, werde ich Vollgas geben. Das Ziel bleibt der Weltmeistertitel», sagt sie. Werner wird auch dann ganz in ihrer Nähe sein und mit ihr jubeln oder sie trösten. Reusser: «Henni gibt mir sehr viel. Ich verbringe oft sehr viel Zeit am Stück mit ihm, dann sehen wir uns aber wieder wochenlang nicht. Er ist mein emotionaler Partner und mein bester Freund.» Sie schauen sich in die Augen, lächeln. Kennengelernt haben sie sich 2019, als Ex-Profi Werner Reussers Coach wurde. Sie erinnert sich: «Wir trafen uns auf Mallorca für ein Trainingslager. Das Wetter war so schlecht wie seit Jahren nicht. Doch wir merkten, dass uns weder der Regen, die Müdigkeit oder der Hunger bei unseren stundenlangen Veloausfahrten störte. Es war einfach schön, mit Henni zu sein.»
Marlen Reusser und Hendrik Werner lernten sich kennen,als er 2019 ihr Trainer wurde. Auf Mallorca kamen sie sich näher.
GABRIEL MONNETWie lange Marlen Reusser noch weiterfährt, ist unklar. Beim spanischen Movistar-Team hat sie einen Vertrag bis Ende 2027. «Es ist super, mir gefällt es richtig gut», sagt sie. Auch die Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles (USA) reizen sie. Wird danach Familie ein Thema? Onkel und Tante sind beide längst. Reusser: «Wenn ich mit den Kindern meines Bruders zusammen bin, ist das total therapeutisch. Aber ich bin sehr glücklich ohne. Sag niemals nie, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Henni und ich keine Kinder haben werden.» Ob auf dem Velo, mit Kindern oder ohne: Werner und Reusser – oder eben Henni und Pfiff auf Zack – wird es auch künftig nicht langweilig.
Text: Mathias Germann