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Schweizer Schauspiellegende Hanspeter Müller-Drossaart

«Ich bin ein hüpfendes Innerschweizer Landinsekt»

Jüngst feierte er seinen 70. Geburtstag, doch ans Aufhören denkt Hanspeter Müller-Drossaart nicht. Der Schauspieler und Autor im Gespräch über Neugier und Vergänglichkeit, Moralisierung und Wertezerfall – und über eine Diagnose, die ihn tief erschütterte.

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<p>Der Vorhang ist für ihn noch längst nicht gefallen: Auch mit 70 Jahren steht Hanspeter Müller-Drossaart mitten im Leben.</p>

Der Vorhang ist für ihn noch längst nicht gefallen: Auch mit 70 Jahren steht Hanspeter Müller-Drossaart mitten im Leben.

Remy Steiner

Im alten Theatersaal bleibt Hanspeter Müller-Drossaart stehen und zieht den roten Bühnenvorhang. Schummriges Licht liegt über den leeren Rängen. «Mit 16 spielte ich hier meine erste grosse Rolle in Carlo Goldonis ‹Der Diener zweier Herren›. Das war der Anfang meiner Karriere», sagt er und lächelt.

Wir sind im Kollegitheater in Sarnen OW. Grad gegenüber, im Internatsgebäude, das heute zur Kantonsschule gehört, war Müller-Drossaart sieben Jahre lang Zögling. Heute lebt er in Zürich, ist schriftstellerisch tätig – und gehört zu den bekanntesten Schauspielern des Landes.

Am 21. September feierten Sie Ihren 70. Geburtstag. Sind Sie jetzt weise?

Als weise würde ich mich nicht bezeichnen. Aber ich weiss mehr über mich als früher. Ich kenne meine Grenzen besser – die Grenzen des Machbaren. Ich weiss um die Bedeutung von Sorgfalt, Respekt, Würde, Neugier. In diesem Sinne bin ich besser gerüstet und etwas gelassener.

Welche Grenzen meinen Sie?

Die Kräfte nehmen ab. Willentlich ist die Energie zwar da, physisch ist es aber nicht mehr gleich. Mit 30 stürzt man sich in Projekte und denkt: Das kommt schon! Mit 70 sagt man sich: Das lass ich jetzt lieber.

Fühlen Sie sich dadurch eingeschränkt?

Überhaupt nicht. Ich habe noch so viele Ideen. Ich möchte mich zum Beispiel in Shakespeare vertiefen und Rätoromanisch lernen.

Langweilig wird Ihnen also nicht?

Im Gegenteil! Ich dachte, mit der Pensionierung hätte ich weniger zu tun und würde in Langeweile enden. Dem ist nicht so. Die Interessen bleiben ja. Das ist eine Einsicht, die ich mit dem Alter gewonnen habe. Ich bin ein hüpfendes Innerschweizer Landinsekt – immer in Bewegung, immer neugierig.

Wenn Sie Ihre Generation betrachten – wo verorten Sie sich selbst?

Ich fühle mich als Zeitzeuge. Plötzlich merkt man, dass der Stoff, mit dem man sich beschäftigt, immer mit der eigenen Zeit zu tun hat. Wenn ich Lesungen habe oder Theater mache, sitzen im Publikum meist Menschen mit weissen Haaren.

Und im Austausch mit den Jungen?

Wenn Kinder uns «Memes» auf ihren Smartphones zeigen, fragen wir Alten: Wo ist die Pointe? Dann heisst es: «Es gibt keine, es ist einfach lustig!» Da merke ich: Ich bin nicht mehr ganz von dieser Zeit (lacht).

<p>Erinnerung an die erste grosse Rolle: Mit 16 Jahren stand Müller-Drossaart im Kollegitheater Sarnen in Goldonis Komödie «Der Diener zweier Herren» auf der Bühne.</p>

Erinnerung an die erste grosse Rolle: Mit 16 Jahren stand Müller-Drossaart im Kollegitheater Sarnen in Goldonis Komödie «Der Diener zweier Herren» auf der Bühne.

Remy Steiner

Welche Beziehung haben Sie zum Tod?

Eine sehr intensive. Mich fasziniert, was Menschen alles tun, um mit dieser Lebenskante umzugehen. Ich lese viel Literatur darüber, und auch in meinen eigenen Texten taucht der Tod auf.

Haben Sie Angst?

Natürlich. Aber am Ende kann es ganz banal sein: Vielleicht gehe ich mit meiner Frau ins Freilichtmuseum Ballenberg – und mir fällt ein Ziegel auf den Kopf (lacht).

Wird man im Alter anders?

Es wächst eine gewisse Grantigkeit – man wird mürrisch. Das Granteln, wie die Wiener sagen, gehört fast automatisch dazu. Aber man muss sich dagegen wehren.

Wie gelingt Ihnen das?

Indem ich einen Schritt zurücktrete und sage: Schau, es ist alles okay! Einfach Ruhe bewahren. Die Unruhe, die uns Menschen permanent antreibt, braucht Distanz. Das muss man erkennen – und lernen, von sich selbst zurückzutreten. Besonders in meinem Beruf.

Aktuell sind Sie unter anderem mit Lesungen zweier Ihrer Bücher unterwegs, darunter «Hiäsigs», in dem Sie Gedichte und Prosa in Obwaldner und Urner Mundart sowie in Hochdeutsch verfassten. Warum ist Ihnen Mundart als Literatursprache so wichtig?

Weil Mundart der Kern meiner Sprache ist. Von klein auf habe ich die unterschiedlichen Satzmelodien meiner Eltern gehört – dieser Klang prägt mich bis heute. Mundart kann Bilder tragen, die im Hochdeutschen verloren gehen. Gleichzeitig hat sie Grenzen: Vieles wird umschrieben statt benannt. Darum brauche ich auch das Hochdeutsche.

Dem breiten Publikum sind Sie vor allem aus historischen Kinofilmen wie «Der Verdingbub» oder «Gotthard» bekannt. Welche Rolle hat Sie am meisten bewegt?

Der Dällebach Kari. Im Musical – den Film halte ich für nicht geglückt. Wir haben das Stück im Jahr 2010 über 100-mal gespielt. Ich fand die textliche wie die musikalische Lösung grossartig.

Warum gerade diese Figur?

Dieser Mann mit Hasenscharte, verletzlich und voller Witz zugleich, hat mich aus einem bestimmten Grund sehr berührt. Kurz vor der Premiere bei den Thunerseespielen bekam ich starke Bauchschmerzen. Im Spital hiess es zuerst, es sei ein entzündeter Blinddarm. Bei der Operation fanden die Ärzte aber ein Karzinom, einen bösartigen Tumor. Eine Krebsoperation stand an – und das zwei Wochen vor der Premiere.

Das muss ein Schock gewesen sein!

Ja. Ich erinnere mich noch genau an den Abend nach der Probe. Meine Frau sagte mir, der Arzt habe angerufen – ich müsse nochmals vorbeikommen. Und auf der Heimfahrt von Thun nach Dietikon zog mein ganzes Leben an mir vorbei. Zwei Wochen nach der OP stand ich auf der Bühne und spielte eine Figur, die an ihrer Krebsdiagnose zerbricht. Diese Nähe zur Rolle vergesse ich nie.

Waren Sie überhaupt schon wieder fit?

Ich hatte Mühe mit der Stimme. Für Sänger nimmt man beim Intubieren normalerweise einen Kinderschlauch, das ist bei mir nicht geschehen.

Brilliert haben Sie auch als Swissair-CEO Mario Corti im Film «Grounding – die letzten Tage der Swissair».

Er war für mich immer «der weisse Ritter». Corti kam von Nestlé, war dort Finanzchef. Er glaubte, er könne die Swissair im Alleingang retten – und scheiterte.

Wie hat sich unsere Gesellschaft seither verändert?

Was mich bewegt, ist die steigende Moralisierung – dass alles sofort in richtig oder falsch eingeteilt wird. Das finde ich problematisch. Und dann sehe ich auch Politikverdrossenheit: Viele wollen sich gar nicht mehr interessieren.

Das klingt pessimistisch.

Nein, im Grossen und Ganzen bin ich optimistisch. Die jungen Menschen heute sind viel besser informiert – sie sind wacher, kritischer, weniger ausgeliefert. Das stimmt mich zuversichtlich.

Frauen haben es in der Filmbranche schwerer, je älter sie werden. Korrekt?

Das war lange so. Heute gibt es zum Glück mehr Rollen, in denen ältere Frauen wirkliches Leben zeigen – und nicht nur Werbung für eine Hautcreme. Optimal ist es noch nicht, aber es bewegt sich. Jugendwahn gibt es übrigens auch bei Männern …

Wirklich?

Am besten ist ein Mann höchstens 50, hat Bart, Body und Turnschuhe – dann bekommt er Rollen. Charakterschauspieler, wie Mathias Gnädinger einer war, sehe ich heute nicht mehr. Vielleicht gibt es irgendwann ein Seniorenkino, in dem die alten, zerknitterten Seelen zu sehen sind (lacht).

<p>«Die steigende Moralisierung in der Gesellschaft empfinde ich als problematisch».</p>

«Die steigende Moralisierung in der Gesellschaft empfinde ich als problematisch».

Remy Steiner

Wie sehen Sie die Zukunft des Schweizer Kinos?

Nicht so rosig. Es ist fast nicht zu finanzieren. Bei Produktionen wie «Gotthard» oder «Davos 1917» kamen viele Darsteller aus dem Ausland. Das hat mit Marktwert zu tun. Doch wie soll man als Schweizer Schauspieler zu einem Marktwert kommen, wenn es zu wenig Arbeit gibt?

Da spielt Netflix sicher auch eine Rolle.

Ja, eine grosse. Die Streamingdienste holen die Leute mit ihren Serien vom Schweizer Kino weg. Aber: Ohne Netflix und Co. geht es auch nicht. Die haben sich bei der Literatur abgeschaut, wie man Geschichten erzählt. Da kann man als Schauspieler viel lernen. Aktuell schaue ich die Serie über die Brüder Menendez, die ihre Eltern getötet haben. Grossartig erzählt, aber schmerzhaft.

Sie sind ehemaliger Klosterschüler und wurden katholisch erzogen. Welche Rolle spielt der Glaube heute für Sie?

In der Kindheit und im Internat waren die religiösen Rituale strukturbildend. Die Spuren dieser Weltsicht bleiben eingeschrieben in der eigenen Existenz. Praktisch möchte ich eine Affinität zu spirituellen Werten nicht leugnen, auch wenn kein «Gott mehr dahinterhockt».

Wie sieht die Zukunft der katholischen Kirche aus?

Angesichts der inneren Verbocktheit gegenüber Neuerungen und der Geringschätzung der Frauen gräulich bis schwarz. Vermutlich wird es eine Art Reformation geben – eine Trennung von Traditionalisten und aufgeschlossenen Gläubigen.

Früher prägten Persönlichkeiten wie Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt die Debatten in der Schweiz. Fehlen solche Stimmen heute?

Die Stimmen sind da, die Debatten sind da, werden aber weniger wahrgenommen, weil alle unter den Verunsicherungen der Weltlage leiden. Ich könnte mir aber sehr gut vorstellen, dass vermehrt auch im Podcast-Bereich sozial relevante Themen behandelt werden könnten. Denn Podcasts ermöglichen so vieles an Auseinandersetzung, Reibung und Dialog. Das finde ich einfach grossartig!

AG
Andrea GermannMehr erfahren
Von Andrea Germann vor 41 Minuten