«Schön habt ihrs hier oben!», sagt Lisa Stoll, 27. Die bekannte Alphornspielerin aus dem Schaffhausischen hat schon viel von der Entlebucher Alpabfahrt gehört. Nun ist sie zu Reto Vogel, 38, auf dessen Alp Schlacht ob Sörenberg LU gekommen, um mehr zu erfahren. Von Mitte Mai bis Ende September leben Vogel und seine schwangere Lebenspartnerin Elisabeth Fink, 33, mit dem gemeinsamen Sohn Maximilian, 2½, hier oben.
Seit 2016 besitzt der Entlebucher die Alpkäserei auf 1335 Meter über Meer. 100'000 Liter Milch verarbeitet er pro Saison zu Alpkäse. Es wird die achte Alpabfahrt sein, die Reto und Elisabeth am 23. September zum Hof in Schüpfheim LU führt.
Im Chüjer-Mutz zeigt Reto Vogel seinem Sohn Maximilian, wie man eine Treichel zum Glänzen bringt.
Remo NägeliZwei Tage vor der Alpabfahrt putzen und striegeln Reto und Elisabeth ihre 35 Milchkühe und 5 Geissen. Am grossen Tag bringt Reto ab 3 Uhr morgens die Hörner seiner Kühe zum Glänzen, schnallt ihnen die Treicheln um den Hals, drapiert den Blumenschmuck auf den Köpfen.
Besucher aus dem ganzen Land
Um 6.45 Uhr ist Abmarsch! 21 Kilometer sind es runter nach Schüpfheim. Um die Mittagszeit kommen dort sechs weitere Älplerfamilien mit ihren Herden an. 14'000 Besucherinnen und Besucher von nah und fern säumen die Hauptstrasse durchs Dorf, beklatschen den Umzug mit seinem Geläut. «Das sind eindrückliche Momente, nach 130 Tagen auf der Alp», sagt Vogel. «Auch dieses Mal wird es mir kalt den Rücken runterlaufen!»
Schüpfheim liegt im Entlebuch.
Remo NägeliAm Abend dann ein weiterer Höhepunkt des Schüpfheimer Dorffests: Mit Freunden und Bekannten sitzen die Älpler im Festzelt zusammen – «hoffentlich mit unserem Entlebucher Schwingerkönig Joel Wicki» –, stossen mit Kafi Schnaps an und geniessen das Zusammensein nach dem strengen Alpsommer. «Ich wünsche euch eine schöne Alpabfahrt», sagt Lisa Stoll, «aber ich kann leider nicht dabei sein.» Sie tritt dann am Eidgenössischen Volksmusikfest in Bellinzona TI auf. Vogel schmunzelt: «Wir festen auch ohne dich!»
Seit 2004 gibt es dieses farbenfrohe Spektakel in Schüpfheim LU. Die Alpabfahrt, das grösste wiederkehrende Dorffest in der Talschaft Entlebuch, findet heuer am 23. September statt – bei jedem Wetter. Tausende jubeln, wenn die Älpler in ihrem Chüjer-Mutz mit ihren Herden durchs Dorf ziehen. Die Treicheln und Schellen tönen laut, Trachtenfrauen schenken Kafi aus, Jodlerchöre juzen, es riecht nach Chässchnitten. Lebendige Tradition!
Eishockeygoalie Sandro Aeschlimann und Hanna Stalder beim Flachsbrechen am Ort, wo die Zäziwiler Brächete auch heuer stattfinden wird.
Remo NägeliMit Schwung packt Sandro Aeschlimann den Holzgriff des Brechbocks und bewegt ihn auf und ab. «Ich weiss, wie das geht», sagt der 28-Jährige zu Hanna Stalder, 64. Die Einheimische gehört zur Kommission, welche die Zäziwiler Brächete organisiert. Mit Aeschlimann steht sie auf der Wiese, wo am 27. September die diesjährige Brächete stattfindet. Der Goalie des HC Davos und der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft ist ein Ur-Zäziwiler. «Als Bub habe ich immer mitgemacht. Die Brächete ist ein wunderschönes Dorffest.» Vor ein paar Tagen hat er seine Freundin Stephanie Schürch geheiratet. Zur Feier in Ramsei BE kamen alle seine HCD-Kollegen.
Beim Hecheln werden Flachsfaserstränge durch den Hechelkamm gezogen.
Remo NägeliVom Flachs zum Leinenstoff
Auch dieses Jahr werden Tausende Gäste aus der ganzen Schweiz nach Zäziwil pilgern. Sie wollen mitverfolgen, wie 50 Einheimische mit Original-Geräten die 14 Arbeitsgänge des Brächete-Handwerks demonstrieren. «Wir zeigen, wie aus dem Grundmaterial Flachs Leinenstoff entsteht», sagt Hanna Stalder. Hauptarbeitsgang ist das Flachsbrechen, welches der Brächete den Namen gibt. Auf dem Brechbock bearbeitet Aeschlimann die Flachsgarben, bis sich alles Holz von den Fasern gelöst hat. Danach folgt das Hecheln, ehe aus den Fasern Garn gesponnen wird und eine Weberin am Webrahmen den Leinenstoff produziert.
Zäziwil, am Tor zum Emmental.
Remo NägeliFrüher bauten viele Landwirte Flachs an. Im Herbst fand jeweils die Brächete statt – das Verarbeiten der Flachspflanze zum Endprodukt Leinenstoff. Dieser Brauch entwickelte sich zum ländlichen Volksfest – bis nach dem Zweiten Weltkrieg billige Baumwolle aus dem Ausland den heimischen Leinenstoff konkurrenzierte und verdrängte. Dadurch geriet die Brächete allmählich in Vergessenheit – bis 1955 engagierte Einheimische den Brauch wieder aufleben liessen.
«Unsere Brächete ist der einzige Anlass in der Schweiz, wo dieses alte Brauchtum noch so umfangreich gezeigt wird.» Auch Sandro Aeschlimann wird bei der diesjährigen Brächete als Besucher dabei sein – «wenn es mein Hockeytraining zulässt.»
Die von der Gemeinde Zäziwil BE veranstaltete Brächete findet seit 1955 jeweils am letzten September-Mittwoch statt — um dieses alte Brauchtum wiederaufleben zu lassen. Einheimische stellen auch anderes früheres Handwerk vor (Hecheln, Dreschen, Herstellen von Schindeln). 100 Marktstände bieten kulinarische Spezialitäten und traditionelle Waren aus der Region an. Für Speis, Trank und Unterhaltung ist reichlich gesorgt.