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Innenministerin Elisabeth Baume- Schneider

«Ich habe leider keinen Zauberstab»

Die schwierigsten Dossiers liegen auf ihrem Pult: AHV, Krankenversicherung, häusliche Gewalt. Was Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider von ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin in die Landesregierung mitgenommen hat.

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<p>Ein bisschen Heimat in Bern: Der jurassische Künstler Augustin Rebetez hat für Baume-Schneider ihr Sitzungszimmer gestaltet.</p>

Ein bisschen Heimat in Bern: Der jurassische Künstler Augustin Rebetez hat für Baume-Schneider ihr Sitzungszimmer gestaltet.

Kurt Reichenbach

Die Räumlichkeiten von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (61) erzählen, woher sie kommt: An den Wänden hängen Werke jurassischer Kunstschaffender, ein Stück Heimat im Bundesbern. Seit drei Jahren sitzt sie nun in der Landesregierung – und wirkt endlich angekommen. Ihr erstes Jahr im Justizdepartement war hart: harsche Kritik, schlechte Umfragewerte. Im Departement des Innern hat sie ihren Platz gefunden, bei den grossen Sozialthemen, die sie aus ihrem früheren Berufsleben kennt. Helfen als Amtsauftrag.

Sie waren zehn Jahre lang Sozialarbeiterin im Jura. Hilft Ihnen diese Erfahrung als Bundesrätin?

Sehr! Ich habe gelernt, zuzuhören. Ich wollte schon immer für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen – gegen Ungleichheit, gegen das Schweigen. Ich hatte das Privileg, meine Meinung immer frei äussern zu können. Viele Frauen können das nicht. Ich habe mir damals schon gesagt: Ich möchte mich für diejenigen einsetzen, die keine Stimme haben. Auch heute als Bundesrätin.

Sie starten eine Kampagne gegen Femizide. Die Zahlen in der Schweiz sind erschütternd: Letztes Jahr gab es hierzulande 45 vollendete Tötungen, 21 davon waren Femizide!

Ich bin jedes Mal schockiert – aber Schock allein hilft nicht. Wir müssen handeln. Deshalb starten wir eine grosse mehrjährige Präventionskampagne. Sie soll zeigen: Wir dulden keine Gewalt, und die Betroffenen sind nicht allein.

Für ein Land wie die Schweiz sind diese Zahlen doch beschämend!

Leider ist es so. Heute sind die Frauen in der Schweiz zu Hause nicht sicher. Kritisch sind beispielsweise Trennungen. Da erhöht sich die Gefahr für Gewalt sehr stark. Doch so kann das nicht weitergehen. So viele Frauen sind in Gefahr – jede und jeder von uns kennt wohl eine schwierige Situation.

Offenbar braucht es fünf bis sechs Vorfälle, bis eine Frau ihren gewalttätigen Mann verlässt. Erleben Sie das auch so?

Leider ja. Und ich bedauere es, dass man dies den Frauen oft vorwirft. Viele Frauen schämen sich, haben Angst. Noch schwerer ist es, wenn Kinder involviert sind. Oder wenn man sich selbst die Schuld gibt. Ich kannte eine Frau, die sich immer wieder einredete, der Mann habe nur einen schlechten Tag gehabt, habe es nicht böse gemeint. Sie beschönigte die Situation – für sich, für die Kinder. Das ist menschlich – und zugleich tragisch.

Wie sind Sie damit umgegangen, wenn eine Frau zurückkehrte?

Ich habe immer den Kontakt gehalten, bis sie sich richtig befreien konnte. Die Betroffenen brauchen Vertrauen – in das System, in die Opferhilfe, in Freundinnen. Viele schaffen es nicht alleine.

Ein Fall, der Sie bis heute nicht loslässt?

Da gibt es viele. Ein besonders schrecklicher Fall: Ein Mann, krank vor Eifersucht, schoss zu Hause auf seine Frau. Nur weil eine Tür dazwischen war, überlebte sie. Ich war Beiständin ihrer fünf Kinder. Ich fragte sie, warum sie fünf Kinder mit ihm habe. Sie sagte mir, dass sie an seine Liebe glaube, weil er ihr das Gefühl gebe, wichtig zu sein. Sie schämte sich, über die Gewalt zu sprechen – bis sie fast gestorben wäre.

Hatten Sie selbst Angst, wenn Sie in solchen Situationen eingreifen mussten?

In dieser konkreten Situation, ja. Wenn ich spät abends noch im Büro war und ein Geräusch hörte, dachte ich schon: Hoffentlich ist er nicht da. Der Mann war noch nicht im Gefängnis. Ich hatte nicht panische Angst, aber ich nahm die Situation ernst. In solchen Momenten lernte ich, dass es wichtig ist, immer aufmerksam zu sein.

Haben Sie nach solchen schwierigen Fällen psychologische Hilfe bekommen?

Ja. Eine Psychologin unterstützte mich in schwierigen Situationen. Ich habe früh verstanden: Wenn ich für andere stark sein will, muss ich mich professionell begleiten lassen. Das sollte selbstverständlich sein für alle, die mit solchen Themen arbeiten.

<p>Die SP-Politikerin lebt mit ihrem Mann Pierre-André Baume in Les Breuleux JU, gemeinsam haben sie zwei erwachsene Söhne. Im Dezember 2022 wurde sie als erste Jurassierin zur Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga gewählt.</p>

Die SP-Politikerin lebt mit ihrem Mann Pierre-André Baume in Les Breuleux JU, gemeinsam haben sie zwei erwachsene Söhne. Im Dezember 2022 wurde sie als erste Jurassierin zur Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga gewählt.

Kurt Reichenbach

Wie sollen Menschen reagieren, wenn sie häusliche Gewalt bei einer Freundin oder einer Nachbarin vermuten?

Wichtig ist: Präsenz zeigen. Wenn man Schreie hört, kann man nachfragen: «Geht es dir gut? Kann ich etwas für dich tun? Soll ich die Kinder in die Kita bringen?» Manchmal reicht das, damit das Opfer merkt: Ich bin nicht allein. Bei akuter Gefahr muss natürlich die Polizei gerufen werden. Aber nur die Polizei zu rufen und dann zu denken, das Problem sei erledigt, reicht nicht.

Woran erkennt man eine toxische Beziehung?

Vor 15 Jahren wurde die Skirennfahrerin Corinne Rey-Bellet von ihrem Mann getötet. Sie war stark, modern, erfolgreich – niemand hätte das geahnt. Beziehungen können auf unterschiedliche Weise toxisch sein. Eine Frau erzählte, ihr Mann kontrolliere jede Quittung und jeden Kassenzettel. Sogar wenn sie nur Äpfel kaufte. Er schlug sie nie, aber er machte sie klein. Kontrollwahn kann genauso zerstörerisch sein wie körperliche Gewalt.

In Basel-Stadt sind 62 Prozent der Täter bei häuslicher Gewalt Ausländer. Schweizweit über 50 Prozent. Haben wir ein Ausländerproblem?

Nein. Das Problem zieht sich durch alle sozialen Schichten. Es gibt junge und alte Täter, gut und weniger gut ausgebildete, arme und reiche. Das hat man auch beim schrecklichen Fall von Gisèle Pelicot in Frankreich gesehen.

Trotzdem: Mehr als die Hälfte der Täter sind Ausländer, das kann man nicht wegdiskutieren.

Gewalt betrifft alle Nationalitäten, alle Schichten, alle Altersgruppen. Wenn man den Fokus nur auf die Ausländer legt, wird man dem Phänomen nicht gerecht. Deshalb richtet sich unsere Kampagne auch an die ganze Bevölkerung.

Wollen Sie die Schweiz aufrütteln, so wie das bei der sehr erfolgreichen «Stop Aids»-Kampagne der Fall war?

Die Botschaft ist anders als bei «Stop Aids». Wir wollen sachlich kommunizieren. Die wichtigste Botschaft ist: Es kann auch meine Nachbarin treffen, es kann ganz nah sein. Im November starten wir, im Juni – wenn es dann endlich eine nationale Notfallnummer gibt, folgt die zweite Welle.

<p>Ein eigener Sonnen­aufgang: Das Bild «Hymne au soleil» des Jurassiers Jean-François Comment hängt vis-à-vis <br /> des Schreibtisches der Bundesrätin.</p>

Ein eigener Sonnenaufgang: Das Bild «Hymne au soleil» des Jurassiers Jean-François Comment hängt vis-à-vis des Schreibtisches der Bundesrätin.

Kurt Reichenbach

Beim Sorgenbarometer stehen die Krankenkassenprämien ganz zuoberst.

Es gibt hier zwei Sichtweisen: Ja, die Leute klagen über die hohen Prämien, gleichzeitig sind sie aber auch zufrieden mit den Leistungen des Gesundheitssystems. Das darf man nicht vergessen!

Trotzdem: Das Gesundheitssystem kostet rund 100 Milliarden Franken pro Jahr, 42 Milliarden davon entfallen auf die Grundversicherung. Reicht es, hier etwas zu schräubeln und da etwas abzuschleifen?

Ich bin pragmatisch und habe leider keinen Zauberstab. Ich versuche dort Verbesserungen zu erzielen, wo sie möglich sind. Im Gesundheitssystem ist sehr viel Geld: Es gibt viel zu verdienen und viel zu verlieren. Mein Ziel ist, mehr Transparenz und mehr Klarheit zu schaffen. So wird der neue Ärztetarif für ambulante Leistungen, der Tardoc, 2026 endlich eingeführt. Er ist nicht perfekt, aber er bringt massive Verbesserungen gegenüber dem alten Tarif. Die von mir initiierten runden Tische zeigen ebenfalls Erfolge – gerade eben haben wir damit 300 Millionen Franken eingespart. Wir arbeiten an einem lebendigen System und müssen Schritt für Schritt vorangehen.

Die meisten Kosten, die jede einzelne Person verursacht, entstehen in den letzten zwei Lebensjahren. Die Idee einer abgetrennten Pflegeversicherung gibt es schon lange. Dadurch würden die Prämien massiv sinken, die Pflegekosten würden anders finanziert.

Die Idee ist interessant, weil Pflegebedarf ab einem gewissen Alter nicht mehr ein Risiko ist, sondern eine Realität. Aber wie kann das finanziert werden? Höhere Prämien für ältere Menschen? Das wäre sehr unsolidarisch. Mit Steuergeldern? Da wird es politisch schwierig. Geklärt werden müsste auch: Was wird im Alter noch vergütet? Das sind ganz schwierige moralische und ethische Fragen.

Wieso haben Sie nicht die Ambition zu einem Befreiungsschlag?

Weil radikale Reformen in der Schweiz selten eine Mehrheit haben. Und unser Gesundheitswesen schon sehr gut ist: Wir müssen das System nicht auf den Kopf stellen, sondern gezielt verbessern.

Was ist Ihre Vorstellung?

Meine Idealvorstellung ist eine Betreuung, die nah bei den Menschen ist: mehr Ärztenetzwerke, eine bessere Koordination, mehr Zusammenarbeit und weniger Doppelspurigkeiten, eine Stärkung der Pflegeexpertinnen und -experten, die Leistungen auch selber verrechnen könnten. Wir bewegen uns langsam in diese Richtung, aber eben, alles braucht Mehrheiten.

Etwas muss doch aber geschehen, auch weil die Bevölkerung immer älter wird und das Pflegepersonal fehlt.

Ja, klar, das ist eine Herausforderung. Gleichzeitig gefällt mir nicht, wie über das Älterwerden diskutiert wird. Als wäre es etwas, für das man sich schämen müsste. Ich höre oft: «Sie kosten zu viel in der Pflege, sie haben zu grosse Wohnungen, sie nehmen uns im Bus den Platz weg» – so zu denken, ist brandgefährlich. Hinzu kommt, dass mit der Betreuung der Älteren teilweise ein lukratives Geschäft gemacht wird – hohe Tarife für die Betreuung, wenig Lohn für die Pflegenden. Das geht einfach nicht.

<p>Elisabeth Baume-Schneider: «Die Jungen müssen daran glauben, dass sie dereinst auch eine Rente bekommen»</p>

Elisabeth Baume-Schneider: «Die Jungen müssen daran glauben, dass sie dereinst auch eine Rente bekommen»

Kurt Reichenbach

Ab nächstem Jahr braucht die AHV 4,2 Milliarden mehr für die 13. Rente. Nach neusten Vorschlägen aus dem Parlament werden noch die Renten der Ehepaare erhöht – zusammen sind das Mehrkosten von acht Milliarden pro Jahr!

Meine Priorität ist klar: Die 13. AHV-Rente muss finanziert werden. Der Bundesrat hat einen pragmatischen Weg aufgezeigt, jetzt ist das Parlament in der Verantwortung. Die AHV ist die Lieblingsversicherung der Bevölkerung, hat ein genial einfaches System und ist solidarisch aufgebaut. Aber die Jungen müssen daran glauben, dass sie dereinst auch eine Rente bekommen, dass das System für Junge und Alte ein Vorteil ist.

Ist die Erhöhung des Rentenalters nach dem Nein der Stimmberechtigten vom Tisch?

Ja, auch der Bundesrat hat sich im Mai dieses Jahres gegen eine Erhöhung des Referenzalters entschieden. Für mich ist es aber kein Tabu, in Zukunft darüber zu diskutieren. Man muss aber auch die Realität auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen: Ältere Personen haben Mühe, einen Job zu finden.

Wie lange wollen Sie arbeiten?

Ich werde sicher nicht bis 70 arbeiten, aber doch bis 65, mindestens.

Silvana Degonda
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MR
Monique RyserMehr erfahren
Von Silvana Degonda und Monique Ryser vor 4 Stunden