Nebelschwaden ziehen vom See über den Sechseläutenplatz. In der Luft hängt die Feuchtigkeit einer langen Regennacht. Ein Taubenschwarm flattert hektisch davon. Arbeiter in orangefarbenen Signalwesten räumen Metallelemente und Kabelrollen weg. Gabelstapler und Bagger helfen bei den Abbauarbeiten. Die Magie des Zirkus wird mit schwerem Gerät entsorgt und in Kisten verpackt – Ladung um Ladung auf Lastwagen befördert und in Richtung Rapperswil-Jona SG gefahren.
Der Abschied fällt schwer
Mittendrin Géraldine Knie, 46. Die dunkle Sonnenbrille will sie nicht ablegen: «Ich habe zu viel geweint in den letzten Stunden und Tagen.» Die Artistische Direktorin des Familienbetriebs ist durch die Ereignisse sichtlich erschüttert: «Wir haben alles gemacht, was in unserem Einflussbereich lag. Das Sicherheitskonzept funktionierte, das Publikum fühlte sich im Chapiteau wohl. Aber dann kamen die neuen Massnahmen des Bundesrats.» Der Abschied aus Zürich falle schwer: «Es ist immer schwierig, diese wunderbare Stadt zu verlassen.» Aber diesmal sei es besonders hart. Denn bis im März geht der Vorhang nicht mehr auf – und was dann ist, weiss niemand.
Das Ende wird am Mittwoch der vergangenen Woche zur Gewissheit. Um 16.15 Uhr verkündet Gesundheitsminister Alain Berset in Bern das (faktische) Verbot von Grossanlässen. In diesem Moment läuft gerade die Nachmittagsvorstellung des Circus Knie. Das Publikum erhebt sich zu Standing Ovations, verabschiedet die Artisten mit tosendem Applaus aus der Manege. Gleichzeitig aber fliessen Tränen – bei Géraldine und später bei allen Artisten: «Ich musste ihnen sagen, dass wir ab morgen nicht mehr weiterspielen können.»
Am Abend steht die letzte Vorstellung auf dem Programm. «Jeder hat noch mal alles gegeben», erzählt Géraldine, «aber die Ernüchterung war greifbar.» Die ukrainische Tänzerin Anastasia fasst es in Worte: «Du stehst am Morgen auf und freust dich auf deinen Job. Und am Abend bist du arbeitslos.»
Drei Tage später auf dem Sechseläutenplatz: Der Abbau des Zelts ist ein eingespielter Prozess. Jeder Handgriff sitzt, jeder Arbeitsschritt ist eingeübt. Doch irgendwann herrscht ein Moment der Ruhe: Die grosse Blache senkt sich an Seilwinden Zentimeter um Zentimeter gegen den Boden. Jetzt ist allen unmissverständlich klar: Die Tournee 2020 ist passé.
Die grösste Stütze
Der Mann, der das Ganze orchestriert, ist Maycol Errani, 36, Gatte von Géraldine und eine Schlüsselfigur für den Circus Knie der Zukunft. Der Spross einer italienischen Artistenfamilie, begnadeter Reiter und Akrobat, ist an allen Fronten gefordert. Als er gerade eine schwere Metallkiste auf einen Lastwagen packt, wirft er seiner Frau einen kecken Blick zu: «Ist sie nicht wunderschön?» Géraldine lacht herzlich und sagt: «Maycol ist die grosse Liebe meines Lebens. Ohne ihn hätte ich die aktuelle Show nie zusammenstellen können. Er ist am Morgen der Erste auf dem Platz – und am Abend der Letzte, der in den Wagen geht. Und er ist ein wunderbarer Vater für unsere Kinder.»
Der grösste Frust
Wenige Meter daneben ringt Doris Knie, 39, um Fassung. Die Administrative Direktorin spricht von den «schwierigsten Momenten ihres Berufslebens». Sie hätten mit dem negativen Entscheid der Behörden rechnen müssen: «Aber wenn er dann eintrifft, bleibt gleichwohl nur ein grosser Frust.»
Trotz allem: Es ist auch etwas Positives entstanden. Hinter den Kulissen hat die Corona-Krise die berühmteste Familie der Schweiz zusammenrücken lassen. Dabei spielte Géraldine die Hauptrolle. Ihre einfühlsame und integrierende Art öffnete die Tür für eine spezielle «Rückkehr»: Seit diesem Jahr bringt Rolf Knie, 71, Kunstmaler und so etwas wie der verlorene Sohn des Betriebs, seine Stimme wieder vermehrt ein. Géraldine sagt dazu: «Wir haben ein derart wunderbares Unternehmen, dass wir alle am selben Strick ziehen sollten – gerade in so schwierigen Zeiten.» Erst in einer ernsthaften Krise erkenne man die wahren Freunde. Oder mit anderen Worten: «Familie bleibt Familie. Mein Vater Fredy sowie meine Onkel Rolf und Franco sind meine grossen Vorbilder. Positiv an der Krise war, dass Rolf mehr Zeit hatte und wir uns oft sehen konnten. Das habe ich sehr genossen.»
Von Genuss aber kann jetzt keine Rede sein. Der letzte Applaus verhallt – und schon ist alles zu Ende. «Fertig luschtig», wie es das Komikerduo Ursus & Nadeschkin in der Show noch kokettierend ins Publikum rief. Nun mag Nadja Sieger, 52, nicht mehr lachen: «Alles geschah so plötzlich. Wir hatten noch nicht einmal die Möglichkeit, uns von allen zu verabschieden.»
Gelassener nehmen es die Mitglieder der südamerikanischen Motorradtruppe Pinillo. Obwohl sie weder wissen, wann und wie sie nach Hause kommen, noch, ob sie in diesem Jahr nochmals ein Engagement erhalten, strahlen sie in die Kamera: «Wir haben schon zu viel erlebt, um uns durch das jähe Tournee-Ende aus der Bahn werfen zu lassen», sagt Chef José Antonio Pinillo. Auf die Frage, ob er in seiner halsbrecherischen Show noch nie verunfallt sei, antwortet er mit einem breiten Lachen: «Das Spital ist mein zweites Zuhause.
Derweil sitzt Angelina Cavallini im Ticketwagen und erstattet das Geld für die nun wertlosen Eintrittskarten zurück. Seit 50 Jahren arbeitet sie für den Circus Knie, doch eine solche Situation habe sie noch nie erlebt. Die Solidarität der Menschen sei berührend: «Viele geben Münz in die Kafikasse, und als am Mittwoch bekannt wurde, dass wir die Tournee abbrechen müssen, lösten Zuschauer, die bereits die Nachmittagsvorstellung gesehen hatten, gleich noch Tickets für den Abend.»
Doch letztlich bleibt nur die wirtschaftliche Schadensbilanz. Mike Wipf, seit Jahrzehnten verantwortlich fürs Catering, schüttelt den Kopf und spricht von einem «Rattenschwanz», den der Tournee-Abbruch nach sich ziehe: «Jetzt fehlen auch unseren Zulieferern die Aufträge. Eben hat mich der Metzger angerufen und gefragt, ob wir nun kein Fleisch mehr brauchen.» Wipf braucht kein Fleisch mehr – sicher nicht bis im Frühling.
Sehnsucht nach Normalität
Im März will sich der Circus Knie in Rapperswil-Jona für die Tournee 2021 bereit machen und schon bald wieder in Zürich gastieren. Géraldine Knie sehnt sich mit ihrer grossen Zirkusfamilie zurück nach der Normalität. Doch diese lässt sich zurzeit noch nicht mal in der Manege herbeizaubern.