«Kaffee oder Glace?» Nemo Mettler (26) schaut auf die Karte, runzelt die Stirn. Beides hat seinen Reiz. Es ist Nachmittag im Café am Pariser Palais Royal, draussen sitzen Touristinnen und Studierende, drinnen riecht es nach gerösteten Bohnen. «Affogato, s’il vous plaît», sagt Nemo schliesslich und lächelt. «Da habe ich das Beste von beidem.»
Seit Mai lebt der kreative Kopf aus Biel in Paris, zuvor war London das Zuhause. Mit «The Code» gewann Nemo 2024 in Malmö den Eurovision Song Contest – als erste Person aus der Schweiz seit Céline Dion 1988. Seither zählt das Musiktalent über 850 000 monatliche Hörerinnen und Hörer auf der Streamingplattform Spotify.
Nach dem grossen Triumph folgt jedoch Funkstille: Nemo verschiebt die geplante Tour und zieht sich zurück, um am Debütalbum zu arbeiten. «Ich weiss, dass viele enttäuscht waren», sagt Nemo. «Aber ich wollte Musik machen, die ehrlich ist, und das geht nur, wenn man wieder zu sich kommt.»

«Qui cache son fou, meurt sans voix» – «Wer seinen Wahnsinn versteckt, stirbt ohne Stimme»: Auf dieser Bank beim Palais Royal gönnt sich Nemo eine Verschnaufpause.
Fabienne BühlerEin Haus aus Musik
Das Resultat ist «Arthouse» – Nemos erstes Album. «Ich habe mir jedes Lied wie ein Zimmer vorgestellt», erklärt der ESC-Star. «Ein Haus, in dem alles Platz hat.»
Musik und Songtexte sind Nemos Sprachrohr. «Auch Tagebuch schreiben hilft mir», sagt Nemo. «Und ich gehe zur Psychologin» – das erlaube Nemo, ehrlich zu sich und zu anderen zu sein. «Das ist mittlerweile der Ort, wo ich meine Gedanken verarbeite.»
Nach dem ESC sei vieles auf einmal gekommen – Aufmerksamkeit, Erwartungen, Termine. «Ich habe es aber nie so wahrgenommen, als wäre es meine Aufgabe, alles zu erfüllen», so Nemo. «Ich wollte einfach so viel machen, wie mir recht war. Vielleicht passt das nicht allen, aber schlussendlich habe ich das getan, was für mich richtig war.»

Zum ersten Mal steht Nemo vor dem Louvre – und ist sofort fasziniert. Von der Architektur, der Geschichte – und dem spektakulären Raubüberfall.
Fabienne BühlerZwischen Paris und London
In der französischen Hauptstadt hat Nemo am entspannteren Tempo Gefallen gefunden: «Die Menschen hier haben eine gute Work-Life-Balance. Es wird gearbeitet, aber am Abend wird mit einem Glas Wein oder gutem Essen abgeschaltet. Wenn man ständig im Tunnel ist, verliert man das Ziel schnell aus den Augen – hier fällt es leicht, rauszukommen. Das ist mega schön.»
Die letzten Jahre waren von Bewegung geprägt – Berlin, Los Angeles, London, jetzt Paris. «Ich war nie wirklich lange an einem Ort», sagt Nemo. «Bis jetzt war ich immer irgendwo untergemietet. Aber jetzt merke ich: Ich brauche ein festes Zuhause.»
Die Entscheidung fällt zwischen London und Paris. «Paris ist die cuteste Stadt der Welt», sagt Nemo. «Ich liebe dieses Kapitel wirklich und wollte ein paar Monate in meiner Lieblingsstadt verbringen. Aber karrieremässig macht London mehr Sinn – deswegen will ich nächstes Jahr zurückziehen.»
Die Schweiz bleibt wichtig – dort lebt Nemos Familie. Doch für die künstlerische Entwicklung brauche es Distanz. «Ich brauche gerade einen Ort, der mich inspiriert und herausfordert.» Bis es so weit ist, will Nemo die Monate in Paris noch geniessen – und die Stadt weiter erkunden. Wie jetzt den Louvre. «Hier lang», sagt Nemo und geht zielstrebig zur Metro hinunter. «Doch nicht, falsche Seite!» Nemo lacht, schüttelt den Kopf. «Ich fahre fast nie Metro. Ich nehme immer das Velo. Ich mag es, die Stadt wirklich zu sehen.»
Vor dem Louvre angekommen, bleibt Nemo stehen und blickt nach oben. «Wow, das ist riesig! Ich war noch nie hier», gesteht Nemo und schmunzelt. «Irgendwie schon bewundernswert, dieser Raub neulich. Den Balkon muss ich mir mal noch ansehen.» Neugierig zückt Nemo das Handy. «Wie lange gibts den Louvre-Palast schon?» Kurz gegoogelt: «Seit 1200», liest Nemo vor. «Wahnsinn!»

Der Popstar aus Biel lebt derzeit in der französischen Hauptstadt. 2026 möchte Nemo wieder in London sesshaft werden.
Fabienne BühlerWahnsinnig – so beschrieben auch viele Nemos Auftritt beim diesjährigen ESC in Basel. Zum ersten Mal sang der letztjährige Gewinner-Act dort das Lied «Unexplainable» (Unerklärlich) live. Die Performance sorgte für Kritik und Begeisterung zugleich. Das Stück entstand nach Nemos Coming-out als nonbinäre Person im Jahr 2023 und erzählt von der Suche nach Identität, vom Gefühl, nicht verstanden zu werden – und von der Sehnsucht, so akzeptiert zu werden, wie man ist. «Das war musikalisch das Persönlichste, das ich je gemacht habe», so Nemo rückblickend. Outfit und Perücke, die Nemo bei diesem Auftritt trug, werden nun versteigert. «Es ist Teil unseres ESC-Siegs und der Austragung hier in der Schweiz. Ich sehe darin ein Stück Geschichte.»
Der Erlös geht an Queeramnesty, eine ehrenamtliche Gruppe innerhalb von Amnesty International, die sich für die Rechte von LGBTIQ+-Personen einsetzt. Die Auktion läuft im Rahmen von #RicardoForGood und endet am Secondhand Day am 8. November. Emotional hängt der Popstar nicht am Bühnenlook. «Der Moment und die Geschichte leben ja weiter», so Nemo. «Ich finde es schön, wenn Dinge weitergegeben werden. Ich kaufe oft Secondhand und liebe Flohmärkte.»

Vier heisse Marroni bestellt der ESC-Star am Strassenrand unweit des Louvre.
Fabienne BühlerZeit für das Wesentliche
Wenn Nemo nicht gerade durch Vintage-Läden streift, verbringt das Musiktalent freie Tage am liebsten mit Freunden – beim Kochen, Spazieren oder im Kino. «Ich bin gerne unter guten Menschen. Das erdet mich.»
Gleichzeitig weiss Nemo die Stille zu schätzen. «Ich habe wieder gelernt, Dinge zu geniessen. Ohne Plan, ohne Ziel. Nur, weil sie sich gut anfühlen. Zum Beispiel gönne ich mir gerne Schlaf, ohne mich schlecht zu fühlen.»
Ob Paris, die Stadt der Liebe, auch privat Spuren hinterlässt? Nemo lächelt. «Ob ich verliebt bin? Das behalte ich für mich.»
Ein bisschen Geheimnis darf bleiben. Doch selbst wenn Nemo nicht alles teilt, steht das Leben längst unter Beobachtung. «Natürlich wissen Menschen vieles über mich, aber das heisst nicht, dass sie mich kennen. Ich wünsche mir, dass sie sich Zeit nehmen, bevor sie urteilen – über mich, aber auch über andere.»