«Für Dreharbeiten waren mein Kameramann und ich gerade in Leuk, als am 19. Mai die Nachricht kam, dass das Dorf Blatten und der Weiler Ried evakuiert werden müssen. Für uns bedeutete das: Abbruch in Leuk, Aufbruch ins Lötschental. Ich war aufgeregt – erst zum dritten Mal stand ich live vor der Kamera. Am Ende des Tages waren es sieben Mal.
Zwischen den Liveschaltungen besuchten wir die Familie Bellwald-Hubert aus Ried. Sie war bei Freunden im Nachbardorf Wiler untergekommen. Dort erzählten sie uns, was geschehen war: wie schnell alles ging, dass sie nur das Nötigste einpacken konnten, dass sie vor lauter Stress sogar ihre Hasen vergessen hatten. Was ihnen am meisten zu schaffen machte, war die Ungewissheit. Werden sie je zurückkehren können? Was wird aus ihrem Zuhause? Fragen ohne Antworten. Fragen, die wie ein Schatten über jedem einzelnen Tag lagen.
Hoffnung, Bangen, kein Ende in Sicht
Das Bangen ging weiter – und auch unsere Arbeit. Früh am Morgen bis spät am Abend, immer im Lötschental. In dieser Zeit begegnete ich vielen Menschen – manche gefasst, andere am Rand der Erschöpfung. Ich traf auch zum ersten Mal Lukas Kalbermatten, Hotelier aus Blatten, früherer Gemeindepräsident. Er war mit seiner Frau bei den Schwiegereltern in Kippel untergekommen. Dort hatte er sich ein provisorisches Büro eingerichtet und versuchte, Touristinnen und Touristen zu beruhigen, die ihre Sommerferien stornieren wollten. ‹Es kann schnell wieder alles gut werden›, sagte er. Ein Satz, der nach Hoffnung klang – und gleichzeitig wie eine stille Bitte an das Schicksal.
Auch lernte ich die Menschen des regionalen Führungsstabs besser kennen, führte bewegende Interviews – mit Gemeindevertretern, Kantonsverantwortlichen. Menschen, die Tag und Nacht im Einsatz waren. Wie es im Wallis üblich ist, war man bald per Du. Der regionale Führungsstab informierte stets hoch professionell, ruhig, menschlich – nach einiger Zeit aber auch von Erschöpfung gezeichnet. Ein Ende war nicht in Sicht.
Seit der Evakuierung war die Journalistin fast jeden Tag im Lötschental – zum Zähneputzen ging sie ins Feuerwehrlokal von Wiler.
Andrea SoltermannDann kam der 28. Mai, der Tag der Katastrophe. Wir – mein Kameramann, viele Medienschaffende und ich – warteten in Ferden auf die nächste Medienkonferenz. Ich verliess den Raum für einen Augenblick. Als ich zurückkam, war alles anders. Schweigen. Starre Gesichter. «Die Medienkonferenz ist abgesagt», flüsterte ein Kollege. Ich lief zu Jonas vom Führungsstab. Sein Blick war leer, sein Gesicht blass. Dann sagte er: ‹Es ist wirklich passiert.›
Und dann kam die Katastrophe
Für einen Moment war alles still. Kein Wort. Kein Geräusch. Nur lähmende Stille. Ich packte meinen Kameramann. ‹Wir müssen uns ein Bild machen von dem, was genau passiert ist›, sagte ich. Was wir dann sahen, werde ich nie vergessen. Da, wo bis vor Kurzem noch Blatten und Ried lagen, war ein riesiger Schuttkegel. Keine Häuser. Kein Dorfplatz. Keine Strassen. Nur Erde, Eis, Felsen, Staub – und eine Stille, die schmerzte.
Ich hatte Tränen in den Augen. Meine Gedanken waren bei der Familie Bellwald-Hubert, bei Hotelier Kalbermatten, bei all den Menschen, die ich in den letzten Tagen kennengelernt hatte. Menschen, die in wenigen Sekunden alles verloren hatten – nicht nur Hab und Gut, sondern Heimat und Wurzeln. Plötzlich klingelte mein Handy. Der SRF-Newsroom. Die nächste Live-Sendung stand an. Ich wischte mir die Tränen ab, stellte mich vor die Kamera und berichtete so präzise und gefasst, wie ich nur konnte. ‹Das ist das Mindeste, was du für diese Menschen jetzt tun kannst›, sagte ich mir. Diese Nacht fand ich kaum Schlaf.
Bereits am nächsten Tag sah ich dann alle wieder. Die Familie Bellwald-Hubert. Hotelier Kalbermatten. Und obwohl sie alles verloren hatten, war da etwas in ihren Augen, das stärker war als jeder Verlust: der unerschütterliche Wille weiterzumachen. Für sich. Füreinander. Man sagt, die Lötschentalerinnen und Lötschentaler seien ein eigenwilliges Volk. Mit eigenem Dialekt, mit starkem Kopf. Nach dieser Katastrophe kann ich dem nur zustimmen. Denn was ich gesehen habe, war mehr als Widerstandskraft. Es war Menschlichkeit. Ein Miteinander, das auch unter Schutt nicht verschüttet wird. Und wer so lebt – kann sogar ein ganzes Dorf wieder aufbauen.»
Text: Anna-Lisa Achtermann