«Das ist ja Art Furrer!» Die Spitex-Pflegerin staunt nicht schlecht, als sie die Wohnung 45 im Seniorenzentrum in Naters VS betritt, wo sie einem Patienten eine Anzahl von Medikamenten verabreicht. Ja, da steht er vor ihr, der legendäre Skiakrobat, Bergführer, Hotelier, TV-Star.
Der Mann ist auch ohne Cowboyhut gut erkennbar. Er hingegen sieht fast nichts, er ist schwer sehbehindert und darauf angewiesen, dass man ihm die Medikamente zur richtigen Zeit verabreicht. Er kennt sich in der Wohnung aus, muss nicht lange herumtasten, er heisst die Spitex-Frau als charmanter Gastgeber willkommen, wie früher, als er «der Hotelkönig» der Riederalp war.

In seiner Wohnung kommt Art Furrer problemlos zurecht. Abgesehen vom Kafi wird in der Küche nichts zubereitet. Fürs Essen gehts ins Restaurant.
Kurt ReichenbachUnverwüstlich, nicht umzubringen, dieser Art Furrer: Auch mit 88 Jahren und seiner Beeinträchtigung hat er seinen Optimismus nicht verloren, erzählt lachend: «Ich musste eine Haushaltslehre machen, als meine Frau sechs Wochen im Spital Visp lag. Da merkte ich, was es heisst, den Haushalt selber zu machen.» Seine Frau Gerlinde (84) musste sich einer schweren Knieoperation unterziehen, jetzt ist sie wieder zurück, läuft an einer Krücke und lacht, wenn sie hört, wie ihr Mann vom Haushalt spricht. «Ins Bett gehen und wieder aus dem Bett steigen, das nennt er haushalten», witzelt sie. Jetzt hält sie die moderne Dreizimmerwohnung in Schuss. Täglich kommt eine Putzfrau vorbei, aber gekocht wird nicht mehr. Zum Essen gehts mit dem Lift runter ins Restaurant. Das einzige Mal, wo Art und Gerlinde die Küche zum Aufwärmen von Schinkengipfeli genutzt haben, kam gleich die Feuerwehr. Die Induktionskochplatte hat sich so schnell erhitzt, dass die Gipfeli schwarz wurden und der Feuermelder Alarm schlug.
KI und Menschenkenntnis als Hilfe
Art hat volles Vertrauen in die Ärzte der Augenklinik Pallas in Olten, die bei ihm zuerst den grauen Star operierten und nun, kurz vor einer drohenden Erblindung, den grünen Star. Jetzt sieht er wieder Umrisse, Berge – zwar nur als Silhouette. Zeitung lesen, fernsehen, all das ist vorbei, dafür läuft jetzt dauernd das Radio. Damit muss er leben. «Was einmal weg ist, kommt nie mehr zurück. Wenn es so weitergeht, werde ich hoffentlich nicht ganz blind, aber das ist Schicksal. Es belastet mich überhaupt nicht. Ich bin ja sonst gesund, meine Frau auch. Sie ist eine unglaublich wichtige, liebe Stütze. Hier könnte ich auch als Blinder sehr gut leben. Man darf nicht versauern, muss immer etwas für den Körper tun und für den Geist. Wir werden unser tägliches Training machen, vor allem marschieren.»
Der Blindenverband hat ihn gelehrt, wie er sich mit seiner Einschränkung orientieren kann. Er hat dabei festgestellt, dass beim Ausfallen des Sehens ganz andere Sinne mobilisiert werden. Früher erkannte er den Charakter eines Menschen mit dem Blick in die Augen, «heute mache ich das mit der Berührung und merke sofort, mit wem ich es zu tun habe».
Ihm wurde auch gezeigt, wie er sein Handy, das er nicht mehr lesen kann, über die Stimme bedienen kann. Er sagt «Hey, Siri, rufe Gerlinde an», und schon ist seine Frau am Draht. Das Telefongespräch läuft über sein Hightech-Hörgerät in beiden Ohren.

Trotz Einschränkungen viel unterwegs: Art mit selbst gebasteltem Blindenstock wegen seiner Sehbeeinträchtigung, Gerlinde mit Krücke nach ihrer Knie-OP.
Kurt Reichenbach«Es geht mir gut», betont Furrer. Er glaubt, dass sein Schutzengel immer noch aktiv ist – vielleicht sogar mehrere. «Ich weiss nicht, ob es diese Engel wirklich gibt, aber wichtig ist, daran zu glauben, und das hilft», lacht er. Ohne Schutzengel hätte Art auch nicht seine einmalige Karriere als Skirennfahrer und Erfinder der Skiakrobatik machen können, ohne je ein Bein zu brechen. Mit Gerlinde hat er alle 48 Viertausender der Schweiz bestiegen und dabei nie einen Unfall gebaut, trotz Steinschlag- und Lawinenereignissen. Auch den 30 Meter tiefen Sturz in eine Gletscherspalte überlebte er ohne Kratzer, der Schutzengel kam in der Person des befreundeten Helipiloten Bernd Van Doornick von Air Zermatt, der ihn direkt mit dem Heli am langen Seil aus der Spalte zog, was gegen das Reglement verstösst, aber gut ausging.
Mit 80 stieg der Gipfelstürmer ein letztes Mal aufs Matterhorn und mit 82 noch auf den Mont Blanc, eigentlich etwas viel für sein Alter.

Furrers sind im Seniorenzentrum in bester Gesellschaft: Angestossen wird mit Arts Kanti-Kollegen, den Pfarrern Andreas Werlen (r.) und Hugo Brunner.
Kurt ReichenbachPistenverbot für die Skilegende
Sohn Andreas hat seinem Vater mittlerweile die nötigen Grenzen gesetzt: Der bekannteste Skifahrer der Schweiz hat für den kommenden Winter ein Pistenverbot erhalten. «Ich darf dann nur noch am Idiotenhügeli, wo die Kinder Ski fahren lernen, ein paarmal runterfahren», meint Art Furrer. «Da kann man sechs schöne Schwünge machen, das reicht, ich bin ja genug Ski gefahren.» Letzten Winter hat er gezählt, wie oft er auf den Ski gestanden ist, ganze 55 Mal. Wenn er jeweils beim Riederhorn auf die Piste ging, flüsterten die Leute: «Achtung, warten, da fährt ein Blinder runter.» Doch ganz aufhalten lässt sich der Ski-Cowboy nicht: «Am Neunzigsten will ich wieder auf die Ski stehen – nur einmal!»
Schutzengel gibts überall, sogar an der Bahnhofstrasse von Brig, wo er kürzlich mit seinen Bergstöcken unterwegs war. Den einen Stock hat er mit weissem Klebeband zum Blindenstock gemacht. Eine Frau hielt ihn auf: «Pardon, Art, du hast die Schuhe verkehrt angezogen …» – «Ich habe es nicht gesehen», lacht er. «Das ist lustig! Man darf den Humor nicht verlieren.»
Die Probleme mit den Augen begannen schon früh, schon als junger Mann hatte er ein Problem mit Hell und Dunkel, das Autofahren gab er vor 20 Jahren auf, weil er bei einer Tunneleinfahrt plötzlich nichts mehr sah. Die Tendenz zur Blindheit ist gerade unter Bergführern weitverbreitet: «Wir Bergführer haben alle zu wenig aufgepasst. Wir waren sicher, wir brauchen keine Sonnenbrillen und -cremes, wir sind stark, wir ertragen das. Ein Irrtum.»
Auf die Riederalp geht Art Furrer nur noch selten, sein Wohnort ist jetzt das «Basislager», wie er die schöne Seniorenresidenz nennt. Irgendwann werden sich Furrers von der Riederalp ganz verabschieden müssen. Zu weit weg von den Enkeln und dem Spital. «Hier in Naters haben wir ja eine Luxuskonstellation. Alle sind lieb mit uns, und der Bus hält direkt vor der Tür.» Im Zentrum leben auch zwei katholische Priester, mit denen er in die Kantonsschule gegangen ist: Andreas Werlen und Hugo Brunner, der Bruder des Alt-Bischofs Norbert Brunner. «Wir sprechen über alles, aber nie über den Tod – oder die Angst vor dem Sterben. Das ist kein Thema. Wir haben ja alles gesehen, alles erlebt, jetzt sind wir in einem Alter, wo weniger geht, aber das ist kein Grund zum Jammern.»
Art hat sich ein kleines Tonbandgerät angeschafft, auf dem er seine Sprachnotizen macht. Vielleicht für ein drittes Buch? «Nein, nein, das mache ich nur für mich, ich will einfach aktiv bleiben. Aber ich möchte schon den Menschen, die alt und blind werden, Mut machen, ihnen sagen, warum niemand versauern muss.»

Dank operativen Eingriffen an den Augen kann Art Furrer wieder Schatten und Umrisse erkennen.
Kurt ReichenbachIn Gedanken stets auf dem Berg
Er entdeckt jetzt auch alle elektronischen Hilfen: «Man kann auch den letzten Lebensabschnitt noch aktiv gestalten. Und dank den digitalen Geräten mit künstlicher Intelligenz ist sehr vieles möglich, das vor einigen Jahren noch unmöglich schien. Mir hilft auch das gute Langzeitgedächtnis: Ich kann nicht mehr bergsteigen, aber ich erinnere mich an jede Tour und kann in den Erinnerungen schwelgen.»
«Übrigens: Von all denen, die mich mal geplagt haben, lebt keiner mehr.» Da schimmert wieder der alte Art durch, der sich mit seinem amerikanisch inspirierten Draufgängertum im Aletschgebiet nicht nur Freunde gemacht hat. Heute wird er dort oben arg vermisst, durch ihn und sein riesiges Beziehungsnetz wurde die Riederalp zum touristischen Hotspot. Erst heute merken die Einheimischen, was sie an dem Mann mit dem Hut verloren haben, als er seine Hotels aufgab. Aber eben: «Man muss immer vorwärtsschauen», sagt Art.
