Als Corinne Suter (29) den Raum betritt, so ists, als ob die Sonne aufgehen würde. Die Skifahrerin strahlt, ihre langen blonden Haare fallen ihr in Locken über den Rücken. «Es geht mir gut. Ich kann wieder gehen», sagt sie und lächelt. Der Kontrast zu jenem verheerenden Skitag in Italien könnte grösser nicht sein. Im Januar fährt Corinne Suter in der Abfahrt von Cortina d’Ampezzo über eine Bodenwelle, landet, ohne zu stürzen, in einem etwas flachen Teil der Strecke – und schreit vor Schmerzen auf. Sie muss die Fahrt abbrechen. «Ich wusste sofort, dass etwas kaputt ist. Und dass die Saison vorbei ist.» Ihrer Familie unten im Zielraum will sie davon vorerst nichts sagen. «Ich wollte nicht, dass sie sich sorgen. Ich schwindelte, dass es nichts Schlimmes sei.» Und obwohl die Schmerzen in den ersten fünf Minuten riesig waren, verschwanden sie im Helikopter auf dem Weg ins Spital. «Da dachte ich mir nur: Lasst mich wieder runter, ich habe morgen ein Rennen!»
Komplizierte Knieverletzung
Im Spital wird ihr erstes Gefühl leider bestätigt: Kreuzbandriss im linken Knie und eine Verletzung des inneren Meniskus. Die Sportlerin muss operiert werden. Wahrscheinlich war Suters Bein in der Luft zu gestreckt gewesen, sodass die Muskulatur das Gewicht bei der Landung nicht halten konnte. «Ich bin schon 100-mal über solche Wellen gefahren. 99-mal ist nichts passiert, jetzt halt schon. Erfolg und Niederlage liegen im Sport sehr nah beieinander», sagt sie rückblickend. Und als Spitzensportlerin kenne man das Risiko – man müsse es trotzdem eingehen.
Corinne Suter weint viel in den ersten Tagen. Es seien zahlreiche neue Dinge auf sie zugekommen, viele offene Fragen. Wie geht es weiter? Wo werde ich die Reha machen? Wann kann ich wie der Ski fahren? Eine Ungewissheit, die die Schwyzerin stresst. Sie muss sich von einer neuen Seite kennenlernen. Geholfen hat ihr der Austausch mit an deren Athletinnen. Die amerikanische Ex -Skifahrerin Lindsey Vonn (39) habe ihr als eine der ersten per Instagram geschrieben, später auf Whatsapp.
«Wir haben uns intensiv ausgetauscht. Sie riet, ich solle mir genug Zeit lassen und nicht zu früh zu viel wollen und machen.» Auch ihre eigene Erfahrung und Reife kommen Suter zugute. Sie weiss: Hätte sie den Unfall vor zehn Jahren gehabt, hätte sie nicht so cool reagiert. Ob die Olympiasiegerin 2022 nach dieser Verletzung auch mal über einen Rücktritt nachgedacht hat? Keineswegs! Im Gegenteil: «Durch so eine Verletzung wird man demütig und lernt wieder zu schätzen, was man macht.» Ihre Liebe zum Skifahren und der Wunsch, bald wieder auf den Brettern zu stehen, seien umso mehr gewachsen.
Das Positive sehen
In dieser Zeit kann sie auf die Unterstützung ihres Umfelds zählen. Früher hatte Suter Mühe, ihre Familien in solchen Situation an sich ranzulassen. Sie habe sich dann verkrochen und es mit sich selbst ausgemacht. Das hat sich verändert. «Wir haben heute einen sehr intensiven Austausch. Ich habe realisiert, dass ich mein Vertrauen den Menschen schenken möchte, die für mich da sind.» Auch ihr Freund Angelo Alessandri (35) mit dem Suter seit fünf Jahren liiert ist, spielt dabei eine grosse Rolle. Ihm vertraut sie alles an, er ist immer an ihrer Seite. «Angelo ist ein Mensch, der in allem stets das Positive sieht. Das hilft mir sehr – besonders jetzt und in den letzten Monaten.»
Die Speed-Queen kann trotz den Umständen einige erfreuliche Dinge sehen. Endlich hat sie die Gelegenheit, die vielen Eindrücke der letzten Jahre zu verarbeiten: den WM-Sieg 2021, die Stürze, die Verletzungen. «Und endlich hatte ich Zeit für all das, was sonst immer zu kurz kommt.» Damit meint sie Zeit für sich, Ausflüge mit ihren Liebsten, lesen. Um abzuschalten, sucht Suter das Meer auf. Mit ihrem Freund verbringt sie im Februar einige Zeit auf den Malediven. Und Lesen beruhigt sie – am liebsten Biografien oder Sachbücher. «Ich habe sogar ein Buch übers Knie gelesen – jetzt weiss ich alles darüber!», sagt sie und lacht. Ferngesehen hat sie wenig – ausser die Skirennen. Nach der Operation wollte sie sofort den Fernseher einschalten. Normalerweise verfolgt sie nur wenige Rennen, doch während ihrer Genesungsphase verpasste sie kein einziges. «Es hat mir Freude bereitet, meinem Sport trotzdem nah zu sein.»
«Cortina bleibt trotz Unfällen eine meiner Lieblingsabfahrten»
Corinne Suter
Cortina – Ort der grossen Gefühle
Und mit guten Emotionen denkt sie auch an den Unfallort zurück. Trotz der jetzigen Verletzung hat sich ihre Beziehung zu Cortina nicht verändert. 2021 gewinnt Suter dort die Weltmeisterschaft in der Abfahrt – einer ihrer grössten Erfolge. Letztes Jahr stürzt sie, holt sich eine Gehirnerschütterung. Dieses Jahr ist es das Knie. Suter sagt: «Cortina bleibt trotz diesen Unfällen eine meiner Lieblingsabfahrten. Ich konzentriere mich auf die vielen schönen und positiven Emotionen, die ich dort erleben durfte.» In Cortina will sie auch bald wieder Ski fahren – anders als in den letzten beiden Jahren unfallfrei. Von einem grossen Comeback will Suter aber noch nicht reden. Sie möchte ihrem Körper so viel Zeit lassen, wie er braucht. Es gebe viele Sportlerinnen und Sportler, die zu früh wieder einstiegen und deren Knie nie wieder ganz verheile. Und immer mit Schmerzen leben zu müssen, will Suter nicht. Eine erste Prognose gibt sie aber: Wahrscheinlich kann sie im August oder September das erste Mal wieder auf den Ski stehen.
Comeback-Termin?
Wann sie ihr erstes Rennen fahren wird, ist unklar. Was sie aber weiss: Der kommende Winter und die Weltmeisterschaft in Saalbach in Österreich werden anders sein als jene in der Vergangenheit. «Ich werde nicht perfekt vorbereitet sein. Aber das nimmt Druck raus.» Somit wird Suter im kommenden Winter auch nicht mehr so stark unter Beobachtung stehen. Was sie jetzt will, ist, ihren Alltag wieder normal zu leben. Ihren Körper gesund werden lassen. Und erneut die erstklassige Qualität erreichen, die sie bereits mehrfach unter Beweis gestellt hat.