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Alt Bundesrat Pascal Couchepin

«Im Bundesrat herrscht Krämergeist»

Er ist der Vater des bilateralen Weges. Jetzt ist Pascal Couchepin besorgt, die EU werde schlechter behandelt als China! Und ruft von zu Hause in Martigny Richtung Bern: «Habt keine Angst vor einer Volksabstimmung!»

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Pascal Couchepin, Alt-Bundesrat, April 2021, SI 17/2021

Das Muskelspiel in Bern regt alt Bundesrat Pascal Couchepin, 79, mächtig auf: «Es erinnert mich viel mehr an Chilbi-Schausteller.»

Kurt Reichenbach

Pascal Couchepin, ist das Rahmenabkommen mit der EU gescheitert?
Noch nicht. Aber es ist in grosser Gefahr. Alle, die dafür sind, müssen jetzt die Stimme erheben.

Bundespräsident Parmelin fordert nach seinem Besuch in Brüssel «eine Garantie, dass die Punkte, die die vitalen Interessen der Schweiz betreffen, immunisiert werden». Was heisst das für Sie?
Immunisieren heisst: Die EU kann nichts mehr machen. Da gibts keine Marge für eine Diskussion. Das Problem der Schweiz ist, dass sie bei diesen Verhandlungen immer nur von Detailfragen ausgeht und die grossen Linien aus den Augen verliert.

Das ist ein Führungsproblem!
Es ist das Drama des Bundesrates, dass er seit Jahren nur noch darauf schaut, es allen recht zu machen, und den Kern der Sache vergisst.

Was ist der Kern der Sache?
Die entscheidende Frage lautet: Ist es gut für die Schweiz, mit der EU in wesentlichen Punkten des Zusammenlebens kein geordnetes Verhältnis zu haben? Wir müssen uns fragen: Was sind die drei wichtigsten Handelspartner der Schweiz? Und: Wie gehen wir mit diesen um?

Worauf wollen Sie hinaus?
Reden wir zuerst über die USA. Die Vereinigten Staaten hatten nicht immer Respekt vor uns. Sie haben uns gezwungen, das Bankgeheimnis abzuschaffen, und jetzt fordern Sie von uns eine Mindeststeuer von Unternehmen. Sie behandeln uns also nicht immer auf Augenhöhe. Trotzdem suchen wir stets brav eine Lösung, Eine Lösung, wo wir zeigen, dass wir gehorchen.

Wir unterwerfen uns also den USA?
Ganz pragmatisch und ohne grosse Diskussionen. Zweitens gibt es China. Ohne ein Auskommen mit China würden viele Schweizer Unternehmen einen bösen Husten bekommen. Also akzeptieren wir die chinesischen Vorgaben, auch wenn die Menschenrechtslage dort nicht in Ordnung ist. Wir arrangieren uns, ohne gross auszurufen.

Das stört Sie?
Mich stört, dass wir nur beim wichtigsten Handelspartner, der EU, anders reagieren. Hier rufen wir aus. Wenn es um die EU geht, markieren wir Stärke und verbieten uns jede Konzession, die wir gegenüber den USA und China klaglos eingehen. Mehr noch: Wir fordern keck von der EU, sie solle sich unseren Regeln unterwerfen.

Was ist das Problem?
Ich frage den Bundesrat: Wann hat die EU die Schweiz je in ihrer Souveränität gefährdet? Wann hat die EU unser Land je richtig unter grossen Druck gesetzt? Wann hat die EU der Schweiz wirklich etwas aufgezwungen? Die gleichen Kreise, die nichts dagegen haben, wenn wir gegenüber den USA und China kuschen, akzeptieren nicht, wenn wir auf Augenhöhe mit der EU verhandeln. Das ist falsch. Denn wer steht uns von den drei grossen Blöcken näher – kulturell, politisch und wirtschaftlich: die EU, die USA oder China?

Ganz klar die EU.
Eben. Mit ihr müssen wir doch am besten auskommen.

«Ein Gespenst geht um – das Gespenst der Angst vor dem Volk»

Pascal Couchepin
Pascal Couchepin, Alt-Bundesrat, April 2021, SI 17/2021

Grossvater Couchepin daheim in Martigny. Draussen spielen seine Enkel. Der FDP-Bundesrat brachte 1999 die Bilateralen auf den Weg.

Kurt Reichenbach

Warum aber die Sackgasse?
Weil wir die Geschichte vergessen! 1999 bei der ersten Abstimmung über die Bilateralen, die ich damals als Bundesrat zu verantworten hatte, war das noch ganz anders. Zwei Drittel der Bevölkerung stimmten zu. Nach sieben mageren Jahren ohne Abkommen nach dem EWR-Nein herrschte im Land Katzenjammer, und das Wirtschaftswachstum war minim. Die Bilateralen brachten den Aufschwung.

Ich weiss, dass Sie den Bundesrat ungern kritisieren. Aber ich muss Sie fragen: Was macht er falsch?
Es sieht so aus: Im Bundesrat herrscht ein Krämergeist. Das ist das Hauptproblem. Sie reden über Details. Und vermitteln keine Vision mehr. Das grosse Ganze – unsere Beziehung zur EU – geht völlig unter. Stattdessen geht ein Gespenst um. Das Gespenst der Angst.

Angst vor wem?
Schlussendlich vor dem Volk. Vor der direkten Demokratie. Die Schweiz hat die Haltung eines Rentners. Wir sagen uns: Was solls? Wir sind reich! Wir haben genug Geld! Wir brauchen nichts von niemandem! Viele glauben, die Segnungen der Personenfreizügigkeit seien einfach da.

Was muss der Bundesrat jetzt tun?
Er muss den Vertrag nach dem Entscheid des Parlaments dem Volk unterbreiten. So eine wichtige Frage sollte vom Volk entschieden werden. Von wem sonst?

Ich habe eher den Eindruck, es läuft nun gar nichts mehr.
Das wäre falsch. Man muss nicht mehr ewig verhandeln. Sondern die jüngsten Vorschläge von Brüssel und Bern in Übereinstimmung bringen und dann den Vertrag dem Parlament vorlegen.

Was ist denn mit dem Lohnschutz, was mit der Unionsbürgerrichtlinie?
Schauen wir doch mal diese famose Unionsbürgerrichtlinie an. Angeblich droht da eine Einwanderung in unser Sozialsystem von Unionsbürgern, die sich in der Schweiz niederlassen, aber nicht hier arbeiten wollen. Die einzigen EU-Bürger, die ich kenne und die hier leben wollen, ohne zu arbeiten, sind doch eher Reiche. Ich frage Sie ernsthaft: Wer wird wirklich in die Schweiz einwandern wollen, um nachher von 900 Franken Sozialhilfe zu leben? Es ist eine Phantomdiskussion. Wer hingegen hier arbeitet, bekommt natürlich AHV, das ist auch richtig.

«Eine so wichtige Frage sollte vom Volk entschieden werden. Von wem sonst?»

Pascal Couchepin
Pascal Couchepin, Alt-Bundesrat, April 2021, SI 17/2021

«Die Schweiz hat die Haltung eines Rentners: ‹Wir haben genug Geld. Wir brauchen nichts von niemandem›», bedauert Couchepin.

Kurt Reichenbach

Im Bundesrat gibt es offensichtlich eine 4:3-Mehrheit gegen das Rahmenabkommen in seiner jetzigen Form. Nur Amherd, Cassis und Berset sind noch dafür.
Ich kenne die Stimmenverhältnisse im Bundesrat nicht. Wenn es so ist, frage ich: Ist es erlaubt, wegen einer Stimme Unterschied im Bundesrat dem Volk so eine wichtige Frage nicht zu unterbreiten?

Aber Cassis sagt jetzt selber, die Vorlage sei so nicht mehrheitsfähig!
Das kann nur ein Volksentscheid zeigen. Um zu gewinnen, muss der Bundesrat mit Leadership vorangehen.

Das macht er doch, wenn er rote Linien festlegt.
Eben nicht! Rote Linien sind sehr ungeschickt. Mit roten Linien erreicht man nie was im Leben. Politik ist geben und nehmen. Rote Linien sagen von Anfang an dem anderen: Es gibt nichts zu verhandeln. Auch Barack Obama ist mit seinen roten Linien in Syrien hochkant gescheitert. Die kriegerische Sprache ist kein Zeichen von Stärke. Der Bundesrat meint, er zeige Muskeln. Aber es erinnert mich mehr an einen Chilbi-Schausteller.

Wenn der Bundesrat vors Volk tritt, braucht er doch mindestens einen Plan B.
Überhaupt nicht. Die Forderung nach einem Plan B ist so ungeschickt wie die roten Linien. Was ist denn ein Plan B? Was bedeutet er? Was ist sein Ziel? Es ist das gleiche Ziel wie für den Plan A: ein gutes Verhältnis zur EU zu finden. Dann müssen wir also wieder 15 Jahre über einen Plan B verhandeln, der dann vielleicht doch das Gleiche ist wie der heutige Plan A. Ein Plan B macht Sinn im Krieg. Aber wir sind mit der EU nicht im Krieg. Wir wollen doch Partner sein. Und wir behandeln die EU schlechter als die USA und China. Aber was ist die EU? Die einen – wie der jetzt plötzlich politisch aktiv gewordene Partner einer Finanzgesellschaft in Zug – sagen im Kampf gegen das Rahmenabkommen: Die EU ist ein viel zu sozialistisches Gebilde. Diese Leute wünschen sich eine Schweiz wie Hawaii (lächelt). Die anderen – so unsere Gewerkschaften – sagen heute: Die EU ist ein viel zu liberales Gebilde. Folglich ist die EU etwas dazwischen, also gar nicht so schlecht und gar nicht so weit weg von der Schweiz.

Was muss der Bundesrat jetzt tun, um das Ruder noch rumzureissen?
Erstens muss er die Lage beruhigen. Zweitens muss er selber kommunizieren. Mit der EU, mit dem Parlament und dem Volk. Dazu muss er die Volksabstimmung so ansetzen, dass genug Zeit für die Diskussion bleibt. Dann klappt es.

Von Werner De Schepper am 29. April 2021 - 17:19 Uhr