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Ex-Botschafter Tim Guldimann

«Die guten Dienste sind ein Feigenblatt»

Die Schweiz muss wissen, was sie will, statt immer nur zu schauen, was sie darf. Der ehemalige Botschafter und Ex-SP-Nationalrat Tim Guldimann über die Neutralität, die Rolle der Schweiz im Krieg und die Neuordnung Europas.

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Tim Guldimann, Diplomat und Politiker

Der Diplomat und Politikwissenschaftler Tim Guldimann war über 40 Jahre für die Schweizer Aussenpolitik tätig, unter anderem als Botschafter in Teheran und Berlin.

Kurt Reichenbach

Herr Guldimann, Sie sind Diplomat, waren lange Jahre als Botschafter weltweit tätig: Was muss die Diplomatie tun, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?
Diplomatie ist Beihilfe zur Verständigung. Um den Krieg zu beenden, müssen sich beide Seiten verständigen. Das ist nur möglich, wenn Moskau die Souveränität Kiews anerkennt. Putin anerkennt die Ukraine aber nicht als souveränen Staat, geschweige denn ihre territoriale Integrität. Trotzdem ist in einzelnen Fragen eine Verständigung nicht ausgeschlossen, zum Beispiel für einen, wenn auch nur begrenzten Waffenstillstand oder für humanitäre Korridore. Dringend wäre auch eine Lösung für die Exportmöglichkeiten von Getreide, allenfalls gekoppelt mit Ausnahmen für Sanktionen, wenn es um russische Getreideexporte geht. Beide Länder gehören zu den grossen Getreide- und Maisproduzenten für den Weltmarkt. Der Ausfall dieser Lieferungen führt zum Hungertod von Millionen von Menschen. 15 Millionen Tonnen Getreide lagern in der Ukraine und blockieren die Speicherkapazität für die Juni-Ernte. Die Häfen von Mariupol und Odessa werden von Russland blockiert. Putins Politik ist aber so irrational, dass ich mir auch dafür kaum eine Verständigung erhoffen kann.

Die Diplomatie kann also nichts ausrichten?
Die Diplomatie kann nur helfen. Entweder um eigene Interessen zu sichern oder anderen bei einer Verständigung zu helfen – wenn sie das wollen. Die Situation ist heute so gefährlich, weil wir keine nachvollziehbaren Interessen Russlands erkennen, von denen man ausgehen könnte.

Die Schweiz ist bekannt dafür, besonders versierte Diplomaten zu haben, um Gute Dienste anzubieten.
Die haben andere auch. Im Unterschied zu ihnen sind die Guten Dienste bei uns aber zur Ideologie geworden, die uns bei grossem Selbstlob als Feigenblatt dienen: Wir sind neutral, mischen uns nicht ein, um Gute Dienste anbieten zu können.

Aber das ist doch gut so – jemand muss ja vertrauensvoll vermitteln können?
Natürlich braucht es einen «Rössli»-Wirt, damit sich die Streitparteien treffen können. Das war die Rolle der Schweiz beim Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit US-Präsident Joe Biden letzten Herbst in Genf. Das ist wichtig und gut. Und es gibt die Interessenvertretung für Staaten, die nicht direkt miteinander kommunizieren. Das macht die Schweiz zum Beispiel zwischen Iran und den USA oder zwischen Russland und Georgien. Da sind wir Briefträger. Das ist auch sehr wichtig und gut, zweifellos, aber das ist keine Vermittlung. Und dann gibt es in wenigen, zumeist sehr vertraulichen Aktionen eine eigentliche Vermittlung. Nur sollten wir uns nicht so viel darauf einbilden.

Immerhin soll der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski im Juli nach Lugano an eine internationale Ukraine-Konferenz reisen. Das ist doch eine schöne Leistung der Schweizer Diplomatie!
Stimmt, ja, durchaus, ich war vor dem Krieg etwas skeptisch, aber heute ist jeder internationale Anlass nützlich, um über die Situation in der Ukraine zu sprechen.

Die Schweiz hat die EU-Sanktionen übernommen, Bundespräsident Ignazio Cassis bezeichnet Selenski als Freund, Nationalratspräsidentin Irène Kälin reist nach Kiew. Hat die Schweizer Neutralität ausgedient?
Der Krieg ist ein radikaler Umbruch der europäischen Politik. Die europäische Landkarte wird neu gezeichnet. Die Frage für die Schweiz ist: Wo stehen wir? Was ist unsere Rolle? Die erste Reaktion war ja der Neutralitätsreflex: Wir sind neutral! Courant normal! Drei Tage später kam die Wende: Wir machen bei den EU-Sanktionen mit. Aber wie geht es jetzt weiter? Bis wohin sind wir solidarisch? Sind wir auch bereit, Waffen zu liefern? Ganz im Sinne von Heinrich Böll: «Es muss etwas geschehen, aber es darf nichts passieren.» 

Aber die Schweiz definiert sich durch ihre Neutralität!
Eben, und hier liegt das Problem: Über 90 Prozent der Bevölkerung wollen die Neutralität, das ist tief verankerte Überzeugung. Nun sagen zwei Parteipräsidenten, Gerhard Pfister von der Mitte und Thierry Burkart von der FDP, dass die Schweiz auch Waffen in die Ukraine liefern soll. Ich bin auch dafür und dazu noch dankbar, dass zwei Parteipräsidenten klar Stellung beziehen, wenn der Bundesrat wieder mal nicht sagt, was er will.

Tim Guldimann, Diplomat und Politiker

Guldimann in seiner Heimatstadt Zürich beim Interview auf dem Lindenhof.

Kurt Reichenbach

Das Neutralitätsrecht verbietet explizit die Lieferung von Waffen an eine Kriegspartei.
So ist es. Aber die zwei Schlaumeier argumentieren, dass das für Lieferungen über Drittstaaten nicht gilt. Diese Behauptung ist nicht haltbar und provoziert hoffentlich eine nützliche Debatte, die uns zur Kernfrage führt: Was wollen wir? Wo liegen unsere Interessen? Ich bin ja gespannt auf die Reaktionen bei uns über einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden. Die Schweiz könnte noch heute Abend ankündigen, die Neutralität abzuschaffen und es dann – theoretisch nach einer kurzen Anpassungszeit für andere Staaten – vollziehen.

Braucht es dafür nicht eine Abstimmung und eine fundierte Diskussion?
Doch, aber die Frage muss eben lauten: Was wollen wir? Und nicht: Was dürfen wir? Wir sind ein souveräner Staat und können entscheiden, was wir wollen.

Ist die Schweizer Neutralität nicht eine völkerrechtliche Verpflichtung, die wir einhalten müssen?
Nein, es gibt keine solche Verpflichtung. Historisch beruhte sie auf den beidseitigen Interessen von uns und den anderen Staaten. Die Schweiz lebte während drei Jahrhunderten vom Blut ihrer Söldner. Die Könige ringsum wollten sicher sein, dass sie jederzeit Zugang zu diesem Personal hatten und dass die Alpenübergänge nicht von einem Konkurrenten besetzt werden. Ebenso sollten die Eidgenossen unter sich und mit den Nachbarn friedlich leben, denn im Kriegsfall hätten sie ihre Soldaten zurückgezogen. Heute ist die Situation doch eine völlig andere. Ausser in Moskau hörte ich in meiner ganzen diplomatischen Karriere nie, dass die Neutralität wichtig sei. Nur in Moskau bedeutete sie, dass wir als westliches Land nicht in der Nato sind. Das hat uns aber nicht geholfen, von Putin nicht doch auf die Liste der feindlichen Staaten gesetzt zu werden.

Die Neutralität ist in der Verfassung verankert.
Ja, aber nur als Kompetenzartikel. Die Verfassung sagt, dass der Bund für die Neutralitätspolitik zuständig ist – wie auch für Atomkraftwerke. Deshalb ist es nicht verfassungswidrig, auf Atomkraftwerke zu verzichten.

Ohne Neutralität könnte die Schweiz auch nicht mehr Briefträgerin spielen.
Na und? Es gibt auch andere Briefträger, und dafür muss man nicht einmal neutral sein. Das wird überbewertet. Falls unsere Briefträgerdienste der Grund sein sollten, dass wir nicht der EU beitreten, dann habe ich lieber tiefere Roaminggebühren, als dass da einer mit einem Diplomatenkoffer herumrennt.

Die Neutralität hat uns im Zweiten Weltkrieg gerettet!
Das glauben Sie ja selber nicht! Denken Sie, Adolf Hitler habe sich im Rechtsdienst der Reichskanzlei erkundigt, ob ihm die Neutralität verbiete, die Schweiz anzugreifen? Wir haben Waffen nach Deutschland geliefert und uns erfolgreich und mit viel Glück durchgewurstelt. Ich habe Zweifel, ob uns dieses Glück der Abseitsstehenden nochmals rettet. Nehmen wir den Worst Case einer massiven Energiekrise in Europa ohne russisches Gas. Ich zweifle dann an der Solidarität der EU, da wir ja ohne Rahmenabkommen keinen geregelten Zugang zum EU- Strommarkt haben. Dann können wir uns als Sonderfall nur noch warm anziehen.

Tim Guldimann, Diplomat und Politiker

Tim Guldimann:«Die Uno bleibt unabdingbar. Der Einsitz im Sicherheitsrat tut der Schweiz sehr gut. Dann muss sie lernen, Stellung zu beziehen»

Kurt Reichenbach

Wie soll sich die Schweiz zur EU verhalten?
Ich hoffe – und es gibt Anzeichen dafür –, dass der Krieg Europa zwingt, näher zusammenzustehen und die Integration zu vertiefen. Für mich ist klar, dass die Schweiz Teil davon sein sollte.

Sie leben in Berlin, haben auch die deutsche Staatsbürgerschaft und sind Mitglied der SPD. Ihre Einschätzung der deutschen Politik in der Ukraine?
Mich überzeugt die Linie von Bundeskanzler Olaf Scholz. In einer Krise tendiert man dazu, sofort empört und damit gesinnungsethisch zu reagieren und unbegrenzte Solidarität zu fordern. Die Verantwortung einer Regierung geht aber weiter. Verantwortungsethisch geht es um die Risiken von politischen Entscheiden, die zur nuklearen Eskalation oder zu einer Wirtschaftskrise nach einem Gasstopp führen könnten. Das ist nicht immer einfach zu erklären.

Im Sommer wird die Schweiz in den Sicherheitsrat der Uno gewählt. Die ständigen Mitglieder sollten doch eigentlich den Frieden garantieren, und nun gefährdet das Mitglied Russland selber den Frieden und droht mit Atomwaffen. Hat die Uno so noch eine Zukunft?
Auch die USA haben schon völkerrechtswidrige Kriege begonnen und sind ständiges Mitglied. Die Uno bleibt als Ort des Dialogs unabdingbar. Und der Einsitz im Sicherheitsrat tut der Schweiz sehr gut. Dann muss sie lernen, Stellung zu beziehen. 

Monique Ryser
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Von Monique Ryser am 7. Mai 2022 - 18:09 Uhr